Teju Coles „Jeder Tag gehört dem Dieb“

Heimkehr in die vertraute Fremde

Der nigerianische Patient

„Jeder Tag gehört dem Dieb“: Teju Coles prosaischer Blick auf Nigerias Hauptstadt und Gesellschaft

Wiener Zeitung und Glanz & Elend, Juli 2015

Wenn Desaster Humus für gute Literatur sind, dann ist Nigeria ein fruchtbarer Boden. Boko Haram im Norden, Ölpest im Süden, und auch andernorts geben Misswirtschaft, Gewalt und Migration den Puls auch für ein schriftstellerisches Schaffen vor, das scheinbar nicht mehr der Imagination bedarf. Generell machen gute Neuigkeiten kaum je Schlagzeilen, doch die Realitäten im bevölkerungsreichsten Land Afrikas geben selten, aber doch etwas Anlass zu Optimismus: Seit kurzem hat es Südafrika als größte Wirtschaftsmacht des Kontinentes überholt, und die Wahlen im April 2015 haben immerhin einen demokratischen Machtwechsel gebracht. Der neue Präsident ist mit dem Versprechen angetreten, die Selbstbedienungsmentalität nigerianischer Politiker ein Ende zu bereiten.

Wole Soyinka, Schwarzafrikas erster Literaturnobelpreisträger, ist Nigerianer, und 2014 war mit Port Harcourt im Nigerdelta die erste Stadt südlich der Sahara UNESCO-Welthauptstadt des Buches. Viele der erfolgreichen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren Schwarzafrikas teilen allerdings mit Soyinka eine ähnliche Lebensweise: sie leben meist im Ausland, wegen der chronisch unsicheren politischen und Existenzsituation oder schlicht der besseren Publikationsmöglichkeiten. Und so manche werden erst mit dem Blick von außen zu literarischen, ja moralischen Autoritäten. Längst sind diese Afropoliten, afrikanische Kosmopoliten wie etwa Taiye Selasi, die den Begriff geprägt hat, gefeierte Stars einer neuen, transnationalen Weltliteratur.

Teju Cole ist keine Ausnahme. Er wurde in den USA geboren, wuchs in Lagos auf, und ging als Teenager zurück nach Amerika. Dort wurde er mit Beiträgen für den New Yorker bekannt, und mit dem Roman Open City gelang ihm 2011 der internationale literarische Durchbruch. In seinem erst heuer auf Deutsch erschienenen, autobiographischen Erstling »Jeder Tag gehört dem Dieb« beschreibt der Ich-Erzähler eine Reise nach Nigeria als junger Erwachsener. Es ist eine Heimkehr in eine vertraute Fremde, in die Verwandtschaft und den Großstadtmoloch Lagos.

Unsentimentale Reise…

Coles schwarz-weiß bebilderter Reportage-Essay, der auf einem Reise-Blog basiert, scheint die gängigen Klischees über das Land zu bestätigen. Doch die kommen nicht von einem herablassenden Weißen, sondern von einem US-Nigerianer, der in seiner Wahrnehmung zwischen Verbundenheit und Befremdung, Zorn und Scham schwankt. Zum Achselzuckenden Fatalismus vieler Einheimischer ist er nicht bereit. »Ich bilde mir ein, die größte Enttäuschung schon hinter mir zu haben, doch ich bin wohl noch nicht genug gestraft«. Die Episoden von Alltags-Überlebenskampf, schamloser Bereicherung und Brutalität sind für den Leser, aber vor allem für den Ich-Erzähler selbst schwer erträglich. Die Korruption auf allen Ebenen beginnt für ihn bereits am nigerianischen Konsulat in New York und endet – nie. Chaos auf allen Ebenen, aber auch Magie, Bigotterie und das Fehlen von Verbindlichkeit empören ihn jeden Tag aufs Neue. Internetcafes sind zwar ein nötiger und willkommener Kontakt zur Welt – doch allzu oft werden sie für kriminelle Machenschaften genutzt. In kurzen, klaren Sätzen schafft Cole große Unmittelbarkeit. Auf makabre Weise absurd wird der Buchtitel, als ein diebisches Kind – auf frischer Tat ertappt – auf offener Straße mit Benzin übergossen und angezündet wird, sich windend stirbt – und der Lynchmob sich wieder zerstreut.

… unbestechliches Auge

Coles Stärke ist der so unbestechliche wie prosaische Blick, der sowohl bei New York (Open City) als auch bei Lagos die wechselnde eines Insiders und gleichzeitig Außenseiters ist. Er ist sich seines von Erziehung, Normen, Bildung geprägten Standpunkte und Urteile in jeder Minute bewusst – und er ist so intelligent und sensibel, seine Blicke literarisch changieren zu lassen.

Mit seiner gefeierten US-nigerianischen Schriftsteller-Kollegin Chimamanda Ngozi Adichie und ihrem Bestseller-Roman Americanah teilt Cole den gekonnt-literarischen Drinnen-Draußen-Perspektivenwechsel. Anders als Adichie sähe Cole Nigeria einseitig mit dem westlichen Auge, wurde ihm gelegentlich vorgeworfen: er wolle im Land bloß die Defizite gegenüber den USA oder Europa bloßlegen. Doch es ist nicht die verwestlichte Arroganz eines »Americanah«, des Nigerianers, der es in den USA »geschafft« hat, sondern die Liebe zum Land seiner Familie, die den Ich-Erzähler mit seiner universellen rechtsstaatlichen Orientierung verzweifeln lässt: »Kann man sich auf Kultur berufen, ohne sich um Gesetze zu scheren?« Bei seinen lokalen Gesprächspartnern vermisst er jegliche alternative Vision einer genuin nigerianischen Entwicklung. Und im 12-Millionen-Molloch Lagos entbehrt er auch gute Buchhandlungen. Er beklagt – bei all den herausragenden Schriftstellern des Landes – den schwierigen Stand von Literatur, und sei es nur als »Möglichkeitsraum für eine Welt, die manchmal trösten kann«: Der ihn für Minuten erfasst, als er in einem städtischen Bus eine junge Frau ein Buch lesen sieht, von Michael Ondaatje, seinem verehrten Schriftsteller-Kollegen, dem Autor des »Englischen Patienten«. Bevor der Erzähler seinen Mut gesammelt hat, um sie anzusprechen, steigt sie aus und verschwindet in der bücherlosen Menge.

DSC01304 (2)Coles photo-journalistischer Essay erschien erstmals 2007 bei Cassava Republic Press, einem Kleinverlag in Lagos, und 2014 redigiert in New York. Der Titel entstammt einem Yoruba-Sprichwort: »Jeder Tag gehört dem Dieb. Aber einer ist für den Besitzer.« Und in der größten Misere findet Cole Momente von seltener Poesie und Optimismus.

2007 war von Boko Haram noch nicht die Rede. Boko Haram, eine verballhornte Form von »the book is haram«, also verboten, verflucht. »Bücher«, sagte der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka kürzlich beim jährlichen Lindauer Treffen der Nobelpreisträger über den islamistischen Feldzug gegen Nigerias Bildungswesen, »Bücher stehen für Wissen, Kultur, Kulturerbe – kurz, für ziemlich jede geistige Tätigkeit«.

Auch in Nigeria findet ein Zusammenprall von Kulturen statt, ohne dass ihn der US-nigerianische Doppelbürger Cole thesenhaft herbei schreibt. Dazu kommen in jüngster Zeit, wie Coles Ich-Erzähler notiert, verstärkt Chinesen. Auf die literarische Transformation dieses relativ neuen Kulturkontaktes Afrika-Ostasien darf man gespannt sein.

 

Teju Cole
Jeder Tag gehört dem Dieb

Cover: Jeder Tag gehört dem Dieb
Deutsch von Christine Richter-Nilsson
Hanser Berlin, Berlin 2015
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Teju Cole
Open City

Cover: Open City
Deutsch von Christine Richter-Nilsson
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
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Chimamanda Ngozi Adichie
Americanah

Cover: Americanah

Deutsch von Anette Grube
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2014

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