Mythen und Realität unserer Hilfsbereitschaft

Mut versus Niedertracht gegenüber den Schwächsten
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Mythen und Realität unserer Hilfsbereitschaft

Migration: Solidarität einst, Internethetze heute? Unsere Erinnerung trügt oft

Die Presse, August 2015

Die politische, soziale und kulturelle Herausforderung der Migration wird uns länger begleiten. Sie erfordert weniger Slogans als Courage und einen klaren Kopf.

Alle Länder biegen sich ihre Vergangenheit zurecht. Österreich ist bekanntlich keine Ausnahme. In Zeiten der Gewalt war man vornehmlich heldenhaft oder Opfer, eher selten Täter. Und ansonsten hilfsbereit. Ein genauerer, kritischer Blick zeigt anderes.

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Meine Eltern kamen 1945/46 als Vertriebene nach Österreich und fanden im Salzkammergut Aufnahme. Auch wenn die idyllische Gegend anders als die großen Städte kaum vom Krieg verheert war: die Not war überall groß, und die Aufnahmebereitschaft der Ansässigen hielt sich in Grenzen. Die alliierten Besatzungsmächte ließen allerdings keinen Widerspruch zu. Öffentliche Hilfe war nicht vorhanden, aber beim „Hamstern“ – so hieß das Betteln und Tauschen von irgendetwas gegen Essen – steckten ihnen mancher etwas zu. Hunderttausenden ging es ähnlich, oder noch viel schlechter. Nur wenige Monate zuvor waren ganz anders geschundene Menschen durch österreichische Dörfer getrieben worden. Einige Landsleute mordeten, andere johlten oder schauten beschämt weg, wenige gaben – unter Lebensgefahr – den Erbarmungswürdigen etwas Essbares. Über die prozentuale Verteilung von Mut oder Wegsehen, von Großzügigkeit oder Niedertracht kann die Geschichtswissenschaft kaum je genau Auskunft geben.

Meine Großeltern und meine sehr jungen Eltern verdingten sich, die Erlebnisse der eigenen Vertreibung im Kopf, im günstigen Fall als nächtliche Holzteller-Bemaler für amerikanische Offiziere, als Hilfsarbeiter, als Torfstecher, bei den Bauern der Gegend. Zur Arbeitsstelle ging es über viele Kilometer zu Fuß: für den seltenen öffentlichen Bus galt beim Öffnen der Tür das Wort des Fahrers: „Einheimische z’erscht, Zuag’roaste nur, wann a Platz is.“ Allzu oft war kein Platz. Und an den „Zuag’roasten“ klebte in der gleichsprachigen Fremde eine Unterstellung: Wer vertrieben war, musste doch etwas ausgefressen haben, oder..? Üble Nazis vielleicht. Im Gegensatz zu uns Einheimischen… Auch über uns Kinder hing noch viele Jahre später ein Braunschleier: Kind von Vertriebenen. Das war nicht cool. Eher peinlich. Sohn oder Tochter von chilenischen Flüchtlingen zu sein hatte später weit mehr Pepp.

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Doch waren die Einheimischen einst nicht schlechter oder besser als Menschen anderswo in ähnlichen Situationen. Die nachträgliche Heroisierung vermeintlicher Selbstlosigkeit hält der Überprüfung kaum je stand: Die vielzitierten Vergleiche mit 1956, 1968 oder den neunziger Jahren hinken mehrfach. Ungarn, die Tschechoslowakei wie auch das zerfallende Jugoslawien waren Nachbarländer Österreichs. Ein Blick in Zeitungsarchive beweist, dass auch 1956 die Abwehr bald stärker war als die anfängliche Hilfsbereitschaft. Die Grenzen wurden nach wenigen Monaten von den Machthabern in Budapest wieder hermetisch geschlossen. Die Unterschiede in Kultur, Gewohnheiten, auch Religion waren gering. Und von 180 000 Tausend Flüchtlingen jener Monate blieben 10% in Österreich, von 160 000 aus der CSSR 1968 noch weniger. Viele der bislang 25 000 tschetschenischen, der nun zehntausenden syrischen und afghanischen Hilfesuchenden werden bei uns bleiben und unsere Aufnahmebereitschaft umfassend auf die Probe stellen: Nicht nur Quartiere, auch Arbeit, Bildung etc.

Worte wie empörend, dilettantisch, erbärmlich über offensichtliche Mängel der Flüchtlingspolitik sind verständlich, aber nicht immer hilfreich. Negative campaigning befriedigt stets die, die es entrüstet anwenden, und jene von uns, die gleicher Meinung sind. Menschen mit Ängsten werden kaum erreicht, oder gar umgestimmt. Wir sprechen es nur verschämt aus: meist solche aus „bildungsfernen Schichten“.  Weit mehr als empörte Entrüstung erreichen die vielen positiven Beispiele: angewandte Hilfsbereitschaft durch Pfarren, lokale Initiativen, Plattformen.

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Die mangelnde Solidarität in Europa ist nicht wegen, sondern trotz EU präsent. Ohne EU wäre es noch schlimmer. Auch bei uns gilt auf Länder- und Gemeindeebene ein trauriges Florianiprinzip. Nicht nur in Österreich ist für Flüchtlinge in Stadtvierteln mit bürgerlich-grün-alternativer Wählerschaft (vulgo Bobo-Bezirke) die größte Aufnahmebereitschaft zu hören. Untergebracht sind Asylsuchende aber selten dort, sondern eher in traditionellen Arbeitervierteln – wo die SPÖ begründet Angst vor dem Wählerschwund zur FPÖ hat. Klar: im verdichteten Raum sind wenig leistbare Unterkünfte zu finden. Doch mit den praktischen Herausforderungen, gar Ängsten werden weltgewandte Bobos selten konfrontiert.

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Es ist ein kultureller Quantensprung, wenn brachiale Fremdenfeindlichkeit nicht salonfähig, bzw. heute vielmehr: social-network-fähig ist. Aber es ist keine nachhaltige Lösung, wenn Postings feiger Niedertracht nur im Netz zum Schweigen gebracht werden, aber sich dann in einem Mob „für das Abendland“ entladen, oder sich klammheimlich in der Anonymität einer Wahlzelle in Stimmen für fremdenfeindliche Parteien äußern.
Ja, sensible Wortwahl, wie sie die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak einfordert, ist wichtig. Umgekehrt Ängste mit gewaltbereitem Rassismus gleichzusetzen, ist wenig hilfreich. Quer durch Europa werden parallel zur oft als beängstigend erlebten Globalisierung die Rückbesinnung auf die eigene, auch regionale Kultur thematisiert, bis hin zu politischem Separatismus. Viele Ängste aber werden scheinbar nur von solchen Politikern aufgenommen, die sie für infame Zwecke weiter schüren, und missbrauchen.

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Sicherheit ist nicht der Gegensatz von Freiheit, sondern deren Voraussetzung. Asylpolitik ohne Friedens- und Sicherheitspolitik ist Symptombekämpfung. Ursachen von Migration müssen an der Wurzel gelöst werden, durch Kriegsbeilegung und wirtschaftliche Perspektiven in den Herkunftsländern: das sind allgemein anerkannte Erkenntnisse, aber nur mittel- bis langfristig möglich. Allzu gerne verlangen wir von der EU, woran wir uns kaum beteiligen wollen: Aktionen. Und wir wollen der Union kaum geben, was sie dafür braucht: Kompetenzen. Mitverantwortung ist mehr als besserwisserisches Mitreden.
Und wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass Migration in der Geschichte je ganz friedlich von statten ging. Das produktive Management manchmal unvermeidlicher Konflikte auch bei uns ist gefragt.

Die Idee der Europäischen Integration sollte auch eine gemeinschaftliche Dimension gegen nationalen Egoismus und Fremdenhass beinhalten – und zugleich eine lebendige Vision gegen Zukunftsangst, Mutlosigkeit und Gleichgültigkeit. Die EU als Ganzes ist gefordert, aber auch wir alle tagtäglich.

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