Kampuchea

„Kampuchea“: Die monströse Faszination zweier Völker

Träume und Albträume

Patrick Deville erkundet das einstige Kolonialreich Indochina im Geflecht von Mythen und Tatsachen

Wiener Zeitung, August 2015

Ein Dutzend Seiten – dann hat uns Patrick Deville in den Bann gezogen. Vietnam, Kambodscha, Laos waren einst Perlen im französischen Kolonialreich, wo Kleinbürger wie orientalische Paschas leben und wohin später europäische Studenten ihre Revolutionsträume projizieren konnten.

Aus französischer Sicht war Indochine die perfekte Symbiose aus europäischer Aufklärung und fernöstlicher Anmut. Die Faszination war wechselseitig, Indochinas begabteste Jugendliche wurden in Paris mit den Ideen der Französischen Revolution und des Marxismus sozialisiert, inklusive Ho Chi Minh und Pol Pot.

Zur „Stunde Null“ seiner Betrachtungen hat Patrick Deville nicht die Machtergreifung der Roten Khmer 1975 oder deren Vertreibung 1979 gewählt. Es ist ein idyllischer Moment, von dem er ausgeht: das Jahr 1860, als der Schmetterlingssucher Henri Mouhot auf die vom Dschungel überwachsenen Ruinen der Khmer-Tempel von Angkor stieß.

Durch Zeit und Raum

Wie schon in seinen Romanen „Pura vida“, „Äquatoria“ und „Pest und Cholera“ folgt Deville auch diesmal den Spuren von Entdeckern, Abenteurern und Weltverbesserern. Der Augenblicks- und Geschichtensammler umrundet Indochina, von Thailand über Laos, an die birmanische und chinesische Grenze bis nach Vietnam. Er reist in einem Sampan, einem Hausboot, den Mekong hinauf, gleitet zwischen Lotusblumen und Giebeln von Pagoden zurück in die Blütezeit des Reiches von Angkor.

GN RikschaDevilles Betrachtungen in 50 Kurzkapiteln durch Zeit und Raum mäandern wie der Fluss durch Südostasien, ein grüner, blauer, manchmal blutroter Faden durch Träume und Albträume. Im Luftwurzelgeflecht von Mythen und Tatsachen versucht der Ich-Erzähler, „dem Fortschritt der Weltgeschichte“ auf die Spur zu kommen.

Er gibt fiktive Gespräche jener Studenten in Paris wider, die später zu Schlächtern werden. Er entschleiert ihre krude Mischung aus Rousseau und Rive-gauche-Marxismus, die das Volk von Dekadenz, Optikern, Lehrern, von „der Herrschaft der Ausweise und Diplome, ja allem Gedruckten befreiten“. Deville fragt, wie die Länder mit ihrer Schönheit, Natur, Musik, wo Tänzerinnen „in vollkommenen Handbewegungen Pagoden und Wasserbüffel am Fluss“ herbeizaubern, nach dem Kontakt mit Paris ins Grauen abgleiten konnten. Er sucht Erklärung in südostasiatischem Denken, wo der Mensch weniger Individuum ist denn „Aggregat von Energien, bedeutungslos, eine vorübergehende Erscheinung, das Leben nur eine Periode der Reinigung“.

Der Nabel von Devilles Reflexionen zu Samsara, dem leidvollen Kreislauf von Werden und Vergehen, ist die kambodschanische Hauptstadt, wo während seiner Reise 2009 eine Handvoll Roter Khmer vor Gericht stehen. Er beobachtet den Prozess, der den Abschluss von eineinhalb Jahrhunderten verzahnter französisch-kambodschanischer Geschichte markiert, der „monströsen Faszination zweier Völker“.

Die noch lebenden Khmer-Rouge-Führer sind uneinsichtig: Man habe ihnen zu wenig Zeit gelassen, bei der Verschmelzung von Französischer Revolution mit egalitären Bauerntraditionen. Internationale Rechtsexperten, die heute über die damalige Bestialität zu Gericht sitzen, residieren in Luxusvillen mit Hausangestellten und Gruppensex, klagt ein Informant, mit Immunität gegenüber dem hiesigen Gesetz, für dessen Einhaltung sie sorgen sollten. Rund 180 Millionen US-Dollar hat das Khmer-Rouge-Tribunal bisher gekostet – und nur eine einzige Verurteilung zuwege gebracht, jene des Foltermeisters Kaing Guek Eav, kurz Duch.

GN Angkor Natur03

Ein Bildersüchtiger

Bei seinen Bootsfahrten im rostbraunen Wasser entdeckt der geschichts- und bildersüchtige Deville in bronzenen Lichtreflexen noch Poesie, selbst wenn in den Flusswellen längst auch Plastiksäcke schaukeln. Nachts ist der Horizont „von Höllenfackeln gesprenkelt. Das Mekong-Delta, so es nicht verschwindet, könnte eines Tages aussehen wie das Niger-Delta, ölverschmiert, zerstört.“

Deville schreibt mit der Bildung des Philosophen und der Sensibilität des literarischen Beobachters. „Kampuchea“ ist ein melancholischer Abgesang auf die untergegangene Khmer-Kultur, auf den lustig-listig-traurigen Prinzen Sihanouk, auf den Tempelräuber André Malraux, und auf politische Träume.

.

Patrick Deville

Kampuchea

Roman. Aus dem Französischen v. Holger Fock und Sabine Müller

253 Seiten

Bilgerverlag, Zürich 2015,

This entry was posted in Rezensionen. Bookmark the permalink.

Kommentare sind geschlossen.