Pulverfass Kaukasus

Ich habe immer gedacht, der Krieg sei schwarzweiß. Aber er ist bunt

Pulverfass Kaukasus

Wiener Zeitung, Februar 2008

15Ich habe immer gedacht, der Krieg sei schwarzweiß. Aber er ist bunt„, schreibt der 1977 in Moskau geborene, ehemalige Rekrut Arkadi Babtschenko in seiner beklemmenden Tschetscheniendokumentation „Die Farbe des Krieges„.

„Es stimmt nicht, dass die Vögel hier nicht singen . . . der Himmel ist hellblau, wo Menschen getötet werden . . . die Vögel zwitschern, die Bäume treiben junges Grün. Tote Menschen liegen im Gras . . . Man kann daneben stehen und lachen, sich unterhalten. Die Menschheit erstarrt nicht, verliert nicht den Verstand beim Anblick der Leichen. Sehr seltsam, dass der Krieg bunt ist.“

Dieses Bild wirkt fast pittoresk, doch Babtschenkos Darstellung der Kriegsgräuel lässt dem Leser das Blut in den Adern gefrieren.

Völkerbabel

Die fruchtbaren Täler des Südkaukasus waren Jahrtausende lang eine Brücke von Afrika nach Asien. Nicht weit von hier lag der biblische Garten Eden, Noahs Arche soll am Berg Ararat gestrandet sein. Herodot, Strabo oder Plinius beschrieben die Bräuche im Kaukasus, wo Prometheus, Kulturstifter und Feuerbringer, von Zeus gefesselt über einem Abgrund hing. Hier lag das sagenhafte Kolchis der Griechen, das Land Medeas und des Goldenen Vlieses, das Einfallstor für die Heere der Römer, Araber, Mongolen, Tataren, Perser, Türken und für die russische Expansion.

Der Kaukasus war nie eine kulturelle Wasserscheide, sondern stets eine Transitregion von Menschen, Waren und Religionen. Kaiser, Khane, Kalifen, Schahs, Sultane, Zaren oder Kommissare beherrschten die fruchtbaren Niederungen. Die zerklüfteten Berge wurden zum Rückzugsgebiet widerspenstiger, vielsprachiger Völker. Allein die Tschetschenien benachbarte, russische Unruherepublik Dagestan („Bergland“) zählt 13 offizielle Sprachen und 100 Völker, der gesamte Kaukasus noch mehr, von Abasinen, Abchasen, Adygen, Agulen, Armeniern, Aserbaidschanern bis Zachuren und Zowatuschen. Neben indoeuropäischen (wie Armenisch, Ossetisch-Iranisch, Russisch) und Turk- werden bis heute viele Sprachen gesprochen, von denen Georgisch die bekannteste ist.

Drang nach Süden

Die Region Sotschi, Austragungsgebiet der Winterolympiade 2014, war vom 6. bis zum 15. Jahrhundert georgisch, dann osmanisch. Dem Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht folgte ab dem 18. Jahrhundert das „griechische Projekt“, also die Forderung, Konstantinopel von muslimischer Herrschaft zu befreien – was allerdings nicht gelang. Doch hat sich das Zarenreich in den russisch-türkischen Kriegen um 1800 im Kaukasus festgesetzt – zunächst von bedrängten christlichen Nationen im Vielvölkerkonglomerat als Befreier vom osmanischen Joch begrüßt. Die Freude mit der neuen Schutzmacht währte jedoch kurz. Russland verleibte sich Georgien, Ostarmenien sowie Aserbaidschans Ölfelder ein. Die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Nordossetien, wohin sich Premier Putin Anfang August 2008 direkt von der Olympiade in Peking begab, heißt nicht zufällig Wladikavkaz, also „Beherrsche den Kaukasus“.

Renitente Gebiete des Nordkaukasus wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leidlich unter Kontrolle gebracht. Überlebende wurden deportiert oder flohen ins Osmanische Reich. Russland sah und sieht immer noch die „schwarzen“ Bergvölker gern pauschal als Räuberbanden an. Mord sei bei ihnen „nur eine Körperübung“, schrieb Puschkin. Doch bemerkten gerade Puschkin, Lermontov oder Tolstoi einst auch gewinnende Züge der Kaukasier, bewunderten romantisch deren Mut, Freiheitsliebe, Familienbande, Gastfreundschaft, Musik, die Schönheit der Frauen, die Würde stolzer Gemeinden zwischen vergletscherten Bergen und Orangenhainen.

Tschetschenien

3Erst als die UdSSR mit dem Zweiten Weltkrieg zur Supermacht aufstieg, gelang es Stalin, den Widerstand der Kaukasusvölker durch Deportationen und Dezimierung vorübergehend zu brechen. Obwohl hunderte Tschetschenen im Kampf gegen die deutschen Invasoren mit sowjetischen Orden ausgezeichnet wurden, nahm Stalin den Kontakt einiger Kämpfer mit der herannahenden Wehrmacht zu Vorwand, um Tschetschenien kollektiv der Kollaboration zu beschuldigen. Eine halbe Million Tschetschenen wurde mit anderen Völkern 1944 nach Zentralasien deportiert, ihre Gebietseinheit 1946 aufgelöst, Archive, Friedhöfe, Baudenkmäler vernichtet, Ortsnamen ausgelöscht. Tschetscheniens Hauptstadt trägt bis heute den russischen Namen Grosny („die Schreckliche“). Alexander Solschenizyn schreibt im Archipel Gulag: „Es gab [im Verbannungsgebiet] eine Nation, die der Psychologie der Unterwerfung standgehalten hat – als Nation, als Ganzes, nicht nur die Einzelgänger, die Rebellen. Das waren die Tschetschenen. (. . .) Nie und nirgendwo hat es einen Tschetschenen gegeben, der sich um die Gunst eines Aufsehers bemüht hätte; immer traten sie jeder Obrigkeit stolz, ja sogar offen feindselig entgegen. (. . .). Und seht das Wunder – alle fürchteten sich vor ihnen.“

1991 zerfiel die UdSSR – deren Verfassung, ähnlich jener Jugoslawiens, den Unionsrepubliken nominell die Möglichkeit der Unabhängigkeit zugestand – in 15 unabhängige Staaten entlang der konstitutionellen Republikgrenzen, nicht immer identisch mit den ethnischen Bruchlinien an der Südflanke des Riesenreiches, von Moldawien/Transnistrien über den Kaukasus bis Zentralasien. Zahllose lokale Kriege brachen aus und forderten in Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Tschetschenien 200.000 Menschenleben.

Das von mehrheitlich turksprachigen, moslemischen Ländern umgebene Armenien sicherte sich das russische Wohlwollen und eroberte fast ein Fünftel Aserbaidschans um die Enklave Berg-Karabach. Die in Baku herrschende Aliyev-Dynastie versucht seither, in einer Schaukel-Diplomatie zwischen Moskau und westlichen Ölinvestoren, Aserbaidschans Position politisch zu sichern.

Ähnlich wie Armenien sieht das früh christianisierte Georgien seine Kultur (mit alter Schrift, Musik, Weinanbau, exquisiten Tafelfreuden) als eine überlegene an – und zog sich die Feindschaft Moskaus zu. Mit tatkräftiger Unterstützung des russischen Militärs wurden 250.000 Georgier aus Abchasien – wo laut letzter sowjetischer Volkszählung 1989 die Abchasen nur eine Minderheit von 18 Prozent stellten – und aus Süd-Ossetien vertrieben. (Die Mutter des „Georgiers“ Josef Stalin war übrigens Ossetin.)

25Ab Mitte der neunziger Jahre galten die ungelösten Südkaukasus-Konflikte als „eingefroren“. Bis Ende 2003 in der georgischen Rosenrevolution der in den USA ausgebildete Michael Saakaschwili den Präsidenten – und letzten Außenminister der UdSSR – Eduard Schewardnaze aus dem Amt jagte und auf Konfrontationskurs mit Moskau ging. Selbst Russland-Versteher, die von postsowjetischen Phantomschmerzen, von der Umzingelungsangst und vom Kaukasus als der russischen Achillesferse sprechen, gestehen ein, dass Moskau auf einen Anlass gewartet – oder einen solchen provoziert hat. Moskau stattete Abchasier und Südosseten systematisch mit russischen Pässen aus, um zum gegebenen Zeitpunkt „seine Bürger zu schützen“. Zu Sommerbeginn 2008 veranstaltete die Armee umfangreiche Manöver im Nordkaukasus, während südossetische Milizen stichelten. Tage vor den ersten Scharmützeln wurden südossetische Frauen und Kinder nach Russland in Sicherheit gebracht.

Den kaukasischen Völkern gemeinsam sind Clanloyalitäten und eine Tauschbeziehung zwischen Ungleichen: Loyalität gegen Schutz. So glaubte vielleicht auch Saakaschwili an sein gutes Verhältnis zu den USA – mit 2000 georgischen Soldaten, die im Irak stationiert sind. In jedem Fall hat er sich verkalkuliert, als er den russischen Problembären in die Zehe biss. Völkerrecht und westliche Proteste hin oder her – Tiflis hat Südossetien und Abchasien verloren.

23Georgien war beim Export von Wein und Arbeitskräften stets vom „großen Bruder“ abhängig. Umgekehrt war für die sowjetische Intelligenzija der Südkaukasus sozusagen ihr kulturelles Italien. Russlands Hassliebe für die Region, die südliche Lebensart, die Strände, den Wein ist abgeklungen. Moskaus Schickeria trinkt an der französischen Riviera Champagner, während Moskauer Gangs jene verprügeln, deren Haut dunkler ist als die Putins oder Medwedews. Georgiens einst schönste Schwarzmeer-Küstenabschnitte liegen nun in Abchasien, das – im Vorfeld der Olympiade im nahen Sotschi – ungehemmt russische Investoren anziehen wird. Russlands Brutto-Inlandsprodukt hat sich Dank Öl und Gas seit 1999 versechsfacht.

Moskau hat Tiflis – und dem Westen – „eine Lektion erteilt“. Das imperiale Russland war es stets gewöhnt, mehr gefürchtet als geliebt zu sein. Es wird den weiteren internationalen Prestigeverlust ebenso verschmerzen wie zuvor bei der Liquidierung des tschetschenischen Widerstandes. Der Unabhängigkeitswillen unbotmäßiger Bergvölker wird wohl nie ganz gebrochen, aber unter dem Vorwand „Kampf gegen islamistischen Terror“ niedergehalten werden. Arkadi Babtschenko beschreibt in „Die Farbe des Krieges“ eine russische Vergeltungsaktion: „Der Kommandeur befiehlt die Säuberung des Dorfes. Alle Männer werden auf den Platz geschleppt, auf einen Haufen geworfen, dann beginnt das Gemetzel. Einer drückt den Tschetschenen mit dem Bein auf den Boden, ein anderer zieht ihm die Hose aus und schneidet mit zwei, drei scharfen Rucken den Hodensack ab. Die Zähne der Bajonette verhaken sich im Fleisch, reißen die Gefäße aus dem Körper. In einem halben Tag ist das ganze Dorf kastriert, dann zieht das Bataillon ab.“

Das Ausbleiben europäischer studentischer Proteste gegen Moskaus Vorgehen im Kaukasus – anders als bei geopolitischen Über- und Fehlgriffen Washingtons – ist zwar traurig, aber nicht wirklich erstaunlich. Ist Russland der Täter, herrsche Schweigen und Wegschauen, klagte Anna Politkowskaja, Babtschenkos Kollegin bei der kleinen Moskauer Zeitung „Nowaya Gaseta“, die 2006 ermordet wurde. Die aufrüttelnden Berichte dieser Frau störten eine Gesellschaft, die nach 70 Jahren Kommunismus in den Konsum verliebt ist; und Europa, das von einem neuen, demokratischen Partner Russland träumt.

Strategische Interessen

Staatenbeziehungen sind von wirtschaftlichen Interessen geprägt, und oft zynisch. Da wird Putin in den Augen eines ehemaligen deutschen Bundeskanzlers zum „lupenreinen Demokraten.“ Nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte kommen Großmächte mit dreistem Imperialismus nicht nur ungestraft davon, sondern können sich eine respektable Rolle auf der Weltbühne sichern. Moskau setzt in seinem Propagandafeldzug westliche Begriffe ein und gibt sich als Beschützer von Minderheiten und Hüter von Menschenrechten aus. Abchasien und Südossetien sind als künftige Vasallenstaaten Werkzeuge einer wenig rechtstaatlichen Großmacht, die Europas Energieversorgung beherrscht und nicht vor militärischer Gewalt zurückschreckt.

Europa ist bei Öl zu einem Drittel von Russland abhängig, bei Gas zur Hälfte. Zwischen Russland und dem Iran verläuft ein strategischer Korridor. Alle Pipe-lineprojekte, die Öl und Gas vom Kaspischen Meer und aus Zentralasien in den Westen bringen sollen, um Europa von Russland unabhängiger zu machen, laufen durch Georgien. Diese Projekte entziehen sich der Kontrolle der russischen Energieriesen, sind Moskau also ein Dorn im Auge. Auch darin gründet Moskaus Hass auf Saakaschwilis unbotmäßiges Verhalten.

Der Westen hat mit dem unabhängigen Kosovo einen folgenreichen Präzedenzfall geschaffen, und das Völkerrecht ist spätestens seit der Irak-Invasion brüchig geworden. Osteuropa, das mit Moskaus Machtbewusstsein einschlägige Erfahrungen hat, ist skeptisch gegen Russlands Politik und gegen das westliche Appeasement. Die baltischen Staaten und Polen fordern EU und NATO auf, sich Moskaus neozaristischen Ambitionen zu widersetzen. Die NATO will keine offene Konfrontation mit Russland, die Mehrheit der EU-Regierungen predigt partnerschaftliches Verhalten, was von Kritikern als servile Toleranz gescholten wird. Putin lobte die weiche EU-Gipfelerklärung von Anfang September als „Triumph des gesunden Menschenverstandes.“ Trotz ehrlicher Bestürzung in Europas Hauptstädten über Moskaus„unverhältnismäßiges Vorgehen“ und die menschlichen Opfer, ungeachtet der Beschwörung universeller Werte westlicher Zivilisation: in der Realpolitik gibt es Konflikte erster und zweiter, ja dritter Klasse. Israel-Palästina ist ein Konflikt erster Klasse, Darfur, der Kongo dritte Klasse. Die Toten, Vertriebenen, Traumatisierten des Kaukasus liegen irgendwo dazwischen.

Ob der Elbrus, auf Arabisch Dschabal al-alsun , „Berg der Sprachen“, mit seinen 5642 Metern der höchste Berg Europas ist oder zu Asien zählt, mag eine Frage geographischer Konvention sein. Durch die jüngsten Ereignisse ist die lange am Rande unserer Wahrnehmung gelegene Nahtstelle Eurasiens nicht länger ein Hinterhof der Weltpolitik.

Der Westen braucht Russland: für langfristige Energielieferungen, im Anti-Terror-Kampf und bei der Eindämmung iranischer Atom-Ambitionen. Aber politische Analytiker warten gespannt, wo Moskau weitere „Zonen spezieller Interessen“ absteckt. Etwa in der Ostukraine – vielleicht erst nach 2014?„Welcome to Sotschi – our gateway to the future“ lautet der Slogan der Winterolympiade. Russlands Flottenstützpunkt-Pachtvertrag auf der Krim läuft 2017 aus, und Moskau stellt auch Krimbewohnern russische Pässe aus.

Georgien scheint wie ein Lackmustest europäischer Standfestigkeit: sind unsere Werte universal, oder gestehen wir Großmächten ihren Hinterhof zu? Die geopolitischen Langfristfolgen des neuesten Kaukasuskrieges sind noch unklar. Sicher ist: Wir leben längst in einer multipolaren Welt.

Arkadi Babtschenko

Die Farbe des Krieges

Cover: Die Farbe des Krieges

Rowohlt Verlag, Berlin 2006
ISBN 9783871345586
256 Seiten, 17.90 €

Taschenbuch  2008, 9.20 €

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