Im Wahl(rechts)fieber

Jenseits aller Anlassgesetzgebung: Auch ein gutes System kann verbessert werden.

Im Wahl(rechts)fieber

Wenn die Demokratie lebendig bleiben soll, dann muss sie auch verbessert werden. Einige Anmerkungen zur Wahlrechtsreform

Der Standard, Oktober 2016

Die Häme über das Wahlfiasko ist abgeflaut. Die eilige Verschiebung konnten den Schaden eingrenzen. Die längerfristigen Folgen sind noch nicht absehbar. Was bleibt, sind hartnäckig genährte Verschwörungstheorien auf der einen, resigniertes Schulterzucken auf der anderen Seite. Beides ist für eine lebendige Bürger(innen)-Demokratie gefährlich.

Eine Wahlrechtsreformgruppe wird 2017 zusammentreten. Die Debatte sollte nicht den Parteien allein überlassen werden. Die Ausweitung von Briefwahlmöglichkeiten – etwa in der Schweiz oder den USA bereits verbreitet – wird diskutiert, auch die Möglichkeiten von E- und I-Voting. Technische Änderungen allein werden das Vertrauen angesichts begründeter Fragen zu Nachzählmöglichkeiten oder Datenschutz kaum stärken.

Beisitzer-Systeme durch Parteienvertreter in Wahllokalen und gerade bei der Auszählung haben sich auch international bewährt. Soweit kein Schlendrian einreißt, verhindern sie konstruktiv und meist im Konsens an Ort und Stelle Inkorrektheiten. Wenn sich allerdings eine politische Partei als Anti-System-Bewegung geriert und aus politischem Kalkül im Nachhinein systematisch medial subversive Zweifel am Wahlprozess schürt, dann ist ein politischer und auch rechtsstaatlicher Grundkonsens bedroht.

Eine zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtung wurde an dieser Stelle bereits von Experten mit internationaler Erfahrung (13. 9. 2016, „Warum Österreich Wahlbeobachter braucht“, von Grohma, Lidauer und Rabitsch) vorgeschlagen. Sie ist international verbreitet, wenn schon kein Korrektiv, so zumindest eine Ergänzung zu Parteienvertretern, und festigt das Vertrauen kritischer Bürgerinnen.

Für Wahlbeobachtungen gibt es etablierte OSZE-, EU- und UN- Standards. Diese inkludieren das mediale Umfeld, Parteienfinanzierung etc. Selbsternannte Wahlbeobachter vom Schlage eines Ewald Stadler oder Johann Gudenus, die von politischen Freunden zur Legitimierung separatistischer Urnengänge auf die Krim, nach Donezk oder Lugansk eingeflogen werden, erfüllen die systemischen Kriterien verantwortungsvoller Arbeit nicht.

Zwei Wahlgänge in einem?

Jede Krise birgt Chancen, und das Rad muss nicht immer neu erfunden werden. Für Wahlrechtsreformen kann man sich auch international umsehen. Es gibt erfolgreiche Systeme, wie man sich etwa bei Präsidentenwahlen einen zweiten Wahlgang erspart. Wobei nicht die USA Modell stehen, wo ein dritter Kandidat einem Bewerber Stimmen nimmt – Beispiel das Jahr 2000, als der Grüne Anwalt Ralph Nader dem Demokraten Al Gore Prozentpunkte kostete und so George Bush zum Sieg verhalf. Ähnliches droht heuer Hillary Clinton durch die Grüne Jill Stein.

Auch die in manchen Länder angewandte „einfache“ Mehrheit ist kaum empfehlenswert: Wenn das moderate Spektrum zersplittert ist, gewinnt jener, der mit starken Sprüchen eine relative Mehrheit hinter sich schart. Jüngstes Beispiel die Philippinen, wo heuer der – gelinde gesagt – kontroverse Präsident Duterte mit 39% der Stimmen gewann.

Doch gerade im angelsächsischen Raum gibt es Systeme mit sofortiger Stichwahl, als Instant-Runoff-Voting, Alternative Vote oder Ranked-Choice Voting bekannt. Es kommt in unterschiedlicher Form von Irland bis Australien zur Anwendung, bei Regionalwahlen in den USA, in Großbritannien bis zu den Präsidentenwahlen in Sri Lanka.

Einfach gesagt: Wählerinnen setzen Zahlen vor die Kandidaten. Erreicht keiner der als Nummer 1 gezeichneten eine absolute Mehrheit, werden sukzessive die Zweit- und auch Dritt-Gereihten dazugezählt. Kompliziert? Nach den Erfahrungen eher nicht. In US-amerikanischen Städten, wo das Verfahren für Bürgermeisterwahlen angewendet wird, geben bis zu 99% der Wähler gültige Stimmzettel ab.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Popularität einzelner Kandidaten wird ermittelt. Wutbürger und Protestwähler können mit einer „ersten“ Stimme ihr Mütchen kühlen, idealistische Wähler für vielleicht aussichtslose Kandidaten stimmen – und dann gleichzeitig zwischen den aussichtsreichsten wählen. Im Gegensatz zu einer Stichwahl in einem separaten zweiten Wahlgang muss man dann nicht „gegen“ einen Kandidaten stimmen.

Vom Rand zur Mitte

Man erspart sich: Kosten; allfällige Debatten über die Aktualität von Wählerregistern; das monatelange Wiederkäuen hinlänglich bekannter Argumente; sowie das Buhlen eines Wolfes im schmuseweichen Schafspelz um die schwächelnde, aber noch immer breite politische Mitte, wo Wahlen weiter gewonnen werden.

Denn gehen Erststimmen öfter an Kandidaten vom Rand des politischen Spektrums, tendiert die „Zweitstimme“ aller Erfahrung nach zur „Mitte“. Es ist eine Art systemisches Konsensprinzip. Wenn etwa in Krisenzeiten Kandidat Nummer 1 (ein Populist) und als Nummer 2 ein (sagen wir, linker oder grüner) Kandidat zwar jeweils eine begeisterte Kern-Anhängerschaft haben, doch vom überwiegenden Rest der Wählerschaft ebenso heftig abgelehnt werden, könnte auch eine Kandidatin, die bei den „Erststimmen“ nur Dritte war, mit den Zweitstimmen die Mehrheit finden.

Dass mit solch einem System ein „Mitte-Kandidat“ als „kleineres Übel“ gewählt wird, mag als faules Kompromisslertum gelten, wenn man wünscht, dass pointierte Haltungen zum Zug kommen. Doch wir müssen gewärtig sein, dass es eine Gesinnung sein kann, die den persönlichen Präferenzen diametral entgegen steht. Haben wir vor Jahren im sozialpartnerschaftlichen Mief noch das Fehlen einer offenen Streitkultur beklagt, so jammern wir heute über eine Spaltung der Gesellschaft.

Die „sofortige Stichwahl“ ist kein allein selig machendes Mittel gegen die Polarisierung der politischen Debatte, doch es verstärkt bei Wahlen doch die stabilisierende Tendenz zur Mitte. Und ein Zentrum-Kandidat muss mehr sein als das „kleinere Übel“: Er ist weiterhin herausgefordert, klare politische und auch glaubhaft moralische Standpunkte zu vermitteln.

Permanentes Wahlkampffieber

Jede Demokratie muss sich weiterentwickeln, um lebendig zu bleiben: ein Gemeinplatz angesichts Herausforderungen wie Globalisierung, Steuergerechtigkeit, Chancengleichheit, Flucht & Migration oder Überalterung der Gesellschaft. Wahlrechtsreformen allein können Krisen nicht lösen, wenn eine politische Kraft die Umwandlung des Systems in eine plebiszitäre oder gelenkte, national-chauvinistische Demokratie mit einem starken Mann nach Orban- oder einem Putin-Medwedew-Tandem-Modell propagiert. Im momentanen Krisenmodus und einer Politik als Lärmprinzip wird im hitzigen Bedienen von Reflexen die Herstellung weiterer Unzufriedenheit mehr belohnt als die Ermöglichung von Lösungen. Fieber ist eine gesunde Körperreaktion. Ständiges Fieber bedeutet eine chronische Entzündung, die schwächt.

Mit Wahlrechtsreformen muss vorsichtig umgegangen werden. Sie sollten nicht allein politischen Parteien mit ihren Eigeninteressen überlassen werden. Wie bei Wahlbeobachtungen ist die Zivilgesellschaft gefordert. Sonst müssen wir alle uns in Zukunft ein Versagen in der Vielzahl von Krisen vorwerfen.

This entry was posted in Essays & Reportagen. Bookmark the permalink.

Kommentare sind geschlossen.