Angelika Overath, Der Blinde und der Elephant

Der Blinde und der Elephant

Geschenkte Augenblicke

Literarische Häppchen von Glück der Sprachmalerin Angelika Overath

Wiener Zeitung, Juli 2018

Gibt es in unserer digitalen Bilderflut noch Raum für ein feineres Sensorium des Sehens, und die entsprechende Transformation in Sprache? Angelika Overath hat es in Romanen, literarischen Reportagen und Essays so subtil wie überzeugend bewiesen. Bei „Der Blinde und der Elephant“ wurde auf eine Genrebezeichnung verzichtet: es wäre schwierig, die unterschiedlichen Textsorten mit einem Etikett zu versehen.

Geschichten vom Sehen und Begreifen

Zunächst sind es poetische Journale, teils unmittelbar persönliche, teils Gedankenfäden über Autorenkollegen wie Bruce Chatwin, der wie Overath „nach Wirklichkeiten fahndet“. Wenn die Autorin – frei nach Antonio Tabucchi – „Orte der Zuneigung und Reflexion“ besucht, stellt sie Fragen, manchmal melancholisch, etwa nach dem Verblassen klassischer Bildungsinhalte in einer rasant beschleunigten Welt. „Griechischlernen ist Luxus, wie Gedichtelesen Luxus ist.“

Das Thema Migration durchzieht die Geschichten, ohne moralische Lektionen, und fein gesponnen: wir sind alle Wanderer durch Raum und Zeit. Overath nimmt den Leser bei der Hand, setzt ihn wieder aus. Die deutsche Autorin schafft Atmosphäre durch Andeutungen, vertraut darauf, dass genaues Hinsehen, Hinhören und eine feine, schmucklose Sprache oft plastischere Bilder und tiefere Klänge evozieren als gedrechselte Formulierungen. In vermeintlicher Kargheit entsteht Dichte, die man als sprachliche Häppchen von Glück genießt, „geschenkte Augenblicke“, die lange nachklingen.

Die Sprachmalerin Overath transformiert auch andere Kunstformen in Worte, erweitert unsere Wahrnehmung. Ohne Belesenheitsdemonstration entführt sie mit dem Maler Giotto von Padua ins Mittelalter, ins biblische Palästina, in den ultramarinblauen Himmel. Sie folgt Autorinnen wie Herta Müller bei der Montage faktografischen Materials. Manches, was Overath in ihrem autobiographischen Roman „Nahe Tage“ schrieb, hatte sie „selbst nicht verstanden“: Sie schrieb „als Staunende“.

Der Schlusssatz des letzten Kapitels, die Kurzreportage einer Lesung in einer Schule für Down-Syndrom-Kinder, spiegelt so manche Lesemomente wieder: „Und ich erschrak vor Glück.“

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Angelika Overath
Der Blinde und der Elephant
Geschichten vom Sehen und Begreifen. Luchterhand, München 2017, 240 Seiten

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