Shumona Sinha: Kalkutta

Shumona Sinha

Kalkutta: Rückkehr in ein Haus unerfüllter Träume

November 2016


Mit „Erschlagt die Armen“ hatte Shumona Sinha einen Bestseller geschrieben und einen Skandal provoziert. Kalkutta führt melancholisch und politisch in die Stadt der Kindheit

Erschlagt die Armen„, Shumona Sinhas zweiter Roman, war ein politisch unkorrekter Monolog, die Suada einer Dolmetscherin über ihre erbitterten Erfahrungen zwischen bengalischen Asylwerbern und französischen Behörden. Sinha bürstete wortgewaltig Migrations- und Integrationsdebatten gegen den Strich, und wurde zum paradoxen Star.

Ihr erster Roman „Fenster über dem Abgrund“ über die Ankunft einer indischen Studentin in Paris ist bislang nur auf Französisch erschienen.

In „Kalkutta„, Teil Drei einer Art locker verknüpfter Trilogie, kehrt Trisha, Sinhas fiktionales Alter-Ego, zur Kremation des Vaters in ihre Heimatstadt zurück. Sie tastet sich allein durch die muffigen Zimmer des Elternhauses, stößt Fenster auf, nach innen, in ihre löchrige Erinnerung, in Echoräume von Geschichten und Verschwiegenem: „Worte durchquerten die Jahre, zerfetzten die Tage“. Hatte die Gewalt schon immer im Haus geschlummert? „Wie soll man mit der Bedrohung von tausend Schlangen leben, die jederzeit aus der warmen Asche der Melancholie hervorkriechen können?“

Die Rückkehr nach dem Tod der Eltern in das leere Haus der Kindheit ist ein beliebter Literatur-Topos. Bei Sinha ist die sich auffächernde Familiensaga vor politischem Hintergrund von zärtlicher Nostalgie und Desillusionierung über untergegangene Ideale geprägt. In Trisha steigen verschleierte Bilder ihrer verträumten, halb-verrückten Mutter auf, die Schattenbereiche des Hauses mit Schmerz belegt hatte, und klarere Erinnerungen an den Vater, der nach vertrackten Ehejahren „in der Lage war, wie seine Frau zu denken, in ihren Kopf zu schlüpfen, ziellos durch ihre Labyrinthe zu irren.“ Er bemerkte nicht, wie „seine Selbstlosigkeit den Glanz verlor“, er mager und kränklich wurde wie seine Frau.

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Trisha ertrinkt im Lärm der Stadt, in Trauer, im Schweigen des Hauses und der Witwen unter Vorfahren in ihren „weißen Saris voll unerfüllter Träume“. Sie schleicht um die Bücher des Vaters wie um „Gletscher, die unsere Träume einschließen und konservieren.“ In ihr wallen wieder die einstigen Ängste des in der Welt der Erwachsenen überforderten Kindes, der Vatertochter um ihren Helden auf, der eines Abends nicht zurückkam: in den politischen Wirren der siebziger Jahre tauschten die Bosse rechter Parteien und maoistische Naxaliten ihre gemeinsamen Feinde, die Kommunisten, als Geiseln aus. „Man brach ihnen das Rückgrat, ein Bein oder einen Arm, riss ihnen ein Auge aus, nahm ihnen auch den letzten Rest Mut und Willen.“ In parallelen Geschichten voll Schwermut und Schrecken stehen die Personen der Kindheit nicht nur als düstere Gedanken und Gespenster, sondern als greifbare Menschen wieder auf, etwa in den politischen Tischrunden des idealistischen Vaters, der sich geistesgegenwärtig und gedankenverloren von den in West-Bengalen lange herrschenden Kommunisten entfremdete.

Jetzt im Krematorium rufen „die Genossen die Zeit in Erinnerung, als der Kommunismus Trisha wie ein großer Topf erschien, der in der Nähe köchelte und sie mit seinem vertrauten Geruch beruhigte, mit seinem Versprechen von einem einfachen, satten Leben.“ Nach 40 Jahren in der regionalen Regierung wirken die Genossen, die einst dachten, „dass der rote Idealismus sie vor Nationalismus und Fundamentalismus retten würde“, abgekämpft und müde, mit „Augen, die glänzen wie die Knopfaugen von Plüschtigern“.

Voll poetischer Kraft verknüpft Sinha die Verstrickungen und Erschütterungen zweier Familien über mehrere Generationen sowie ihren schmerzlichen Zerfall mit jenen Indiens im allgemeinen, Bengalens im besonderen. Kalkutta ist bei uns Synonym für Slums, Elend und Mutter Theresa. Doch die Stadt war nicht nur lange Hauptstadt der britischen Herrschaft. Sinha macht spürbar, dass der 15-Millionen-Ballungsraum ein kulturell-intellektuelles Zentrum ist, ein Sinnbild des modernen Indien zwischen europäischem Einfluss und Kommunismus, religiöser Tradition und Nationalismus: Weniger eine Symbiose als ein fragiles, lange bereicherndes Gleichgewicht, das von engstirnigen Hindu-Fundamentalisten zertrampelt wird. Das politisch rote Kalkutta ist auch die Stadt Kalis, Göttin der Zerstörung mit blutig heraushängender Zunge. Der Giftbaum religiösen Hasses schlägt Wurzeln, und Fanatiker mit Dreizacken erinnern an die „zweihunderttausend Affen Ramas“: Sie „trinken die Worte ihres Anführers wie heiliges Wasser aus dem Ganges.“

Erschlagt die Armen  war voll provokanter Wut. Kalkutta  ist von Zärtlichkeit und brennender Wehmut getragen. Shumona Sinha lässt die Vergangenheit hochsteigen, den Verlust des Vaters wie auch seiner Ideale, ohne alles durchzuanalysieren. Kalkutta  ist so politisch wie poetisch, leise, manchmal großartig verknappt, dennoch bildgewaltig und voll Farben und Gerüche. Sinha hat heuer den internationalen Kulturpreis erhalten, nicht zufällig zusammen mit Lena Müller, der hervorragenden Übersetzerin beider Romane.

Shumona Sinha, „Kalkutta“, Edition Nautilus, Hamburg 2016, 192 Seiten, € 20,50

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