Plädoyer für eine europäische Flüchtlingspolitik

Plädoyer für eine europäische Flüchtlingspolitik

Tausche Bosnier gegen Tamilen?

Der Standard, Jänner 1994

Das Bosnien-Gemetzel empört uns. Die Untätigkeit des (EU-)Westens noch mehr. Wir verlangen – zu Recht -, daß das Balkan-Grauen raschest beendet wird, notfalls unter Einsatz militärischer Gewalt.

Natürlich ohne uns, denn wir sind erstens neutral und zweitens am Balkan historisch vorbelastet. Wer dann? Die UNO? Die Amerikaner? Die EU? Wie lange noch wollen wir die westeuropäischen Zeitungen – die bei uns allerdings ohnehin nicht gelesen werden – zu zynischen Kommentaren veranlassen, Österreich kämpfe zur Befriedung Bosniens bis zum letzten französischen, britischen oder amerikanischen Soldaten?

Wir blicken gebannt, gelähmt auf den Horror am Balkan, auf Vergewaltigungsorgien, Vertriebenenelend. Wir waren engagiert, sind – bei aller Ermüdung – noch immer empört, und wollen die Flüchtlingsströme auf das aus unserer Sicht untätige Europa verteilen. In unserer grenzenlosen Entrüstung darüber, daß Europa seine Türen für die Balkanflüchtlinge verschlossen hat, verkennen wir das selbstgerechte Moment an unserer eigenen Einstellung.

Sarajewo ist für Paris und London entlegener als für Wien. Für Madrid, Lissabon und Dublin sowieso. Europas Westen interessiert sich scheinbar kaum für Bosnien-Flüchtlinge, zumindest weniger als wir. Ist das nun ein Zeichen moralischer Verwerflichkeit oder einfach ein trauriger Beweis dafür, daß die Betroffenheit über Blut und Greuel mit steigender Entfernung eben rasch absinkt? Anders gefragt: Fühlen denn eigentlich wir für Armenier, Azeris, Abchasen, was wir von Iren oder Portugiesen an Gefühl und Offenheit für Bosnien-Flüchtlinge verlangen? Dabei liegt Abchasien näher bei Wien als Sarajewo bei Dublin oder gar Lissabon.

Wer bei uns hat von Hollands illegalen Mollukkern oder Surinamesen gehört (außer er stürzt gerade ein Jet in einen überfüllten Wohnsilo)? Wer hat sich ernsthaft für Englands Karibik-, Süd- oder Ostasienflüchtlinge interessiert (so sie nicht gerade Salman Rushdie heißen)? Für Frankreichs oder Spaniens Magreb-Immigranten (wenn nicht gerade eine Kopftuch-Frage die europäische Identität erschüttert)?

Welcher Bosnien-empörte Österreicher weiß von Portugals Problemen mit dem menschlichen Treibgut afrikanischer Bürgerkriege, der Massaker auf Timor? Ist das nur das Erbe der Kolonialgeschichte jener Länder, welches uns – neutrale – Österreicher nicht berührt? Ebensogut könnten London, Paris, Madrid oder Brüssel argumentieren, daß sie für das Balkan-Erbe der Österreicher keine Verantwortung tragen.

Wie würden wir auf ein – nie erfolgtes – zynisches Tauschangebot reagieren? We take 50.000 Bosnians, you take 20.000 Hong Kong Chinese; plus 20.000 Tamils. Ou bien 20.000 Algériens. Oder 10.000 Angolaner. Oder oder.

Osteuropa betrifft uns. Doch wer würde sich verantwortlich oder auch nur betroffen fühlen wenn fundamentalischtische Machtübernahmen in Nordafrika eine Heerschar von Flüchtlingen nach Westeuropa trieben? Oder wenn 40 oder 60 Millionen der 120 Millionen Bangladescher obdachlos werden sollten, weil dort der Meeresspiegel weiter steigt?

Nutzlose Empörung

Aus der Verantwortung für Menschenrechte, für die Prävention und die Folgen von Unweltdesastern im „Global Village“ befreien weder Empörung noch hochgezogene nationale Grenzen noch Neutralität. Wir schimpfen auf eine befürchtete „Festung Europa“ und mauern selbstgerecht unsere kleine Insel der Seligen ein – was weder unser Heimklima noch das gemeinsame mit unseren östlichen wie westlichen Nachbarn verbessert.

Eine gemeinsame europäische Asylpolitik kann keine Politik der gemeinsam dichtgemachten Türen sein. Meinen wir es mit unserem humanitären Anspruch ernst, so sollten wir ihn nachhaltig in eine europäische Asylsuche einbringen. Das geht nicht ohne Opfer. Gemeinsame Opfer sind leichter und wirksamer als einsame. Nur so ist Solidarität „machbar“ und lebbar. Innenminister allein scheinen dabei überfordert.

Asylpolitik ohne Friedens- und Sicherheitspolitik ist Symptombekämpfung. Mitarbeit am Aufbau einer europäischen Friedensstruktur? Für Anti-EU-Fundis: ohne uns. Wir verlangen allzugerne von der EU, woran wir uns bisher nicht beteiligen wollten: Aktionen. Und wir wollten der Gemeinschaft, nunmehr nominell bereits Union, schon gar nicht geben, was sie dafür braucht: Kompetenzen.

Der Balkankrieg hat uns eines drastisch demonstriert: Neutralität – ehrliche Neutralität – zwischen Aggressor und Opfer ist nur für einen Vogel Strauß nicht schwierig. Wobei Mitgestaltung und Mitverantwortung nicht unbedingt Betritt zu einem Militärbündnis heißen muß.

Gebot der Stunde

Neue Herausforderungen werden kommen. Wir könnten einen russischen Extremistenführer – vielleicht ist er ein kommender Mann – „neutral“ behandeln und mit Glacéhandschuhen anfassen oder klar und eindeutig gegen ihn Position beziehen. Auch dann wäre eine engere Zusammenarbeit mit unseren demokratischen europäischen Partnern sinnvoll.

Solidarität bedeutet nicht besserwisserisches Mitreden, sondern Mitverantwortung. Das ist das Gebot für die wissenschaftliche, politische, vor allem aber die menschliche Zukunft Europas.

Die Vision des Jahres 2000 muß eine gesamteuropäische sein. Die Grenzen sollten nicht vorschnell definiert werden. Bollwerke sind kaum gefragt. Eine Wohlstandsinsel, an deren Toren sich ständig wirtschaftlich, nationalistisch oder religiös motivierte Verteilungskämpfe abspielen, kann langfristig nicht existieren. Die Idee der Europäischen Integration sollte auch eine gemeinschaftliche Dimension gegen nationalen Egoismus und Fremdenhaß beinhalten – und zugleich eine lebendige Vision gegen Zukunftsangst, Mutlosigkeit und Gleichgültigkeit.

Wenn wir etwas einzubringen haben, sollten wir uns nicht in unserer besserwisserischen Selbstgerechtigkeit einzementieren – sondern mitfühlen, mitentscheiden und mithandeln.

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