Lukas Bärfuss: Hundert Tage

Bleistifte für die Todesliste

Lukas Bärfuss: Hundert Tage

Die Presse, August 2008

800.000 Menschen wurden in Ruanda 1994 abgeschlachtet. Lukas Bärfuss fragt im Roman „Hundert Tage“ nach dem Warum des Völkermords und nach der europäischen Mitverantwortung. Beklemmend.

Ruanda 1994: Der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss thematisiert in seinem Erstlingsroman „Hundert Tage“ die Verwicklung europäischer Entwicklungspolitik in den größten Völkermord nach Auschwitz.

Die nackten Zahlen sind bekannt: 1994 wurden im kleinen ostafrikanischen Ruanda in drei Monaten 800.000 Menschen mit Macheten abgeschlachtet oder in Kirchen verbrannt, während die UNO um den Begriff Genozid feilschte, der zum Eingreifen verpflichtet hätte. Wie zeitlos die Wortklauberei ist, zeigen die jüngeren Beispiele Darfur oder Kongo.

Lukas Bärfuss hat sich mit Bühnenstücken zu kontroversiellen Themen wie Sterbehilfe einen Namen als junger Wilder gemacht. Nun legt er seinen ersten Roman vor. Bestens recherchiert spürt „Hundert Tage“ dem Warum eines kollektiven Blutrausches nach – und europäischer Mitverantwortung im größten Völkermord nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Identifikation heimischer Leser mit einem Stoff ist naturgemäß leichter, wenn die Protagonisten Europäer sind. Bärfuss hat die Form der Lebensbeichte eines tatendurchsichtigen Idealisten voll Gerechtigkeitssinn gewählt, der das Gute will und das Böse zumindest nicht verhindern kann.

Der Abstieg in Abgründe folgt dramaturgisch einer bewährten Mischung aus Krieg und Amour fou: David, ein Entwicklungs-hilfe-Frischling, verliebt sich in eine attraktive Einheimische. In einer Treibhausatmosphäre blüht Liebe auf, keine federleichte,sondern geschwängert von Sex und Gewalt. Nur dass bei Bärfuss die exotische Schöne in verzweifelter Übersteigerung nicht Opfer, sondern Täterin ist.

Bärfuss zeichnet die beklemmende Annäherung von Liebe und Aggression, von Zivilisation und Barbarei, wo selbst in den Augen eines Gutmenschen „ein Flackern die Freude an der Katastrophe verriet“. David verliert im Strudel des Wahnsinns erst die Geliebte, dann die Illusionen und in letzter Lähmung jede Empfindung von Anstand. Er wird nicht aktiv schuldig, überlebt die hundert Tage der Massaker aber nur durch seinen Gärtner, einen Milizionär, der tagsüber mordet und ihn des Nachts mit Essen versorgt. Im Gegenzug versteckt David dessen Plündergut im Haus – und sieht nicht ohne Häme zu, wie der mordende Gärtner seinerseits im Garten von einer trunkenen Hutu-Bande erschlagen wird, weil er seinen (Hutu-)Ausweis im Haus vergessen hat.

Wie viel Information braucht ein Roman? Stellenweise übernimmt sich Bärfuss mit dem Anspruch, die geschichtlichen Hintergründe zu erläutern. Erklärungen geraten zu einem Gemenge aus penibler Recherche und fast kindlicher Beschreibung der „Langen“ (Tutsis), der „Kurzen“ (Hutus) und der „noch Kürzeren“ (Pygmäen). Das alles, um dem Leser ein umfassendes Bild zu geben, das er auch literarisch gewinnen könnte: Erzählkunst, die der Autor gerade im kühlen Blick am fesselndsten beherrscht, in dramatischen Szenen, die so knapp wie packend und glaubwürdig sind, wo er persönlich wird.

DSC01520Bei der hörigen Lust des Protagonisten, bei seiner Besserwisserei und gleichzeitigen Hilflosigkeit. Der Strudel des Grauens reißt David wie den Leser ohne verbale Blutorgien in lakonischen Sätzen mit. Dagegen bleibt die dämonische Wandlung Agathes, des Objektes von Davids Begierde, trotz deftiger Szenen bedauerlich ungreifbar, während in eindringlichen Naturbildern Berggorillas zu besseren Homo sapiens, Silberrücken zu Berggurus stilisiert werden. Der Autor versucht Stereotype zu meiden und tappt dann zuweilen schnoddrig hinein: In „der Schwärze der afrikanischen Nacht“ ist die Sprache der Einheimischen „ein für Ausländer kaum erlernbares Bantu-Idiom“.

Entwicklungshilfe für Herrscher?

Der 1971 in Thun (Schweiz) geborene Lukas Bärfuss legt gekonnt Fallstricke des Gutseins, der politischen Korrektheit angesichts afrikanischer Realitäten aus: Bei aller Ausrichtung auf bedürftige Zielgruppen fördert Entwicklungshilfe Stabilität, die in kaum demokratisch regierten Ländern Afrikas – siehe das jüngste Beispiel heimischer Diskussion, der Tschad-Einsatz – zunächst den Herrschenden zugutekommt. Und Ruanda war – kaum je thematisiert – 1988 bis 2002 auch Schwerpunktland der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Bärfuss geißelt die vermeintliche Kleingeisterei europäischer Entwicklungshilfe und ihrer ebenso hoch bezahlten wie desillusionierten Vertreter vor Ort.

Manche scharf gezeichneten Figuren wirken wie vom dramaturgischen Reißbrett, als Entwurzelte, denen die Schweizer „Heimat zu einem einzigen großen Schuldgefühl geworden war“, oder geraten schlichtweg zu Vehikeln für die These Komplizenschaft der neutralen Eidgenossenschaft, die bereits mit der Debatte über verhinderte Fluchthilfe im Weltkrieg und dem jahrzehntelangen Verstecken nachrichtenloser Bankkonten ihre Unschuld verloren hat.

„Wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben.“ Naive Idealisten werden wie unvermeidlich zumindest zu Zynikern, wenn nicht gar zu Handlangern des Todes: „Wir gaben ihnen den Bleistift, mit dem sie
die Todeslisten schrieben, wir legten ihnen die Telefonleitung, mit der sie den Mordbefehl erteilten, und wir bauten ihnen die Straßen, auf denen die Mörder zu ihren Opfern fuhren.“

Die Schweiz schulte Radiojournalisten – und diese setzen ihre neuen Fertigkeiten für Hasstiraden über dem Äther der „Mille Collines“, der tausend grünen Hügel der „Schweiz Afrikas“ ein. Die „Symbiose unserer Tugend mit ihrem Verbrechen“ machte den Genozid erst möglich, sinniert der aller Illusionen, aber nicht der Schuldgefühle verlustig gegangene Illusionist.

Selbst in einem Thesenroman geht es kaum um weltkluge Analyse. Das Dilemma im Umgang mit „Schurkenstaaten“ und militärischer oder zumindest friedenserhaltender Interventionen wird von Bärfuss angerissen. Der Autor weist keinen Weg durch das „Herz der Finsternis“, das spätestens seit Joseph Conrad bekanntlich nicht im hinteren Afrika, sondern knapp unter dem Firnis der Zivilisiertheit in jedem von uns liegt. Er zieht den Leser in einen dramatischen Sog innerer Kämpfe als Hohlspiegel der äußeren und lässt ihn hilflos zurück wie den gebrochenen Protagonisten in den einsamen Höhen des Jura.

Ob die eidgenössische Selbstgeißelung gerechtfertigt ist, sei ebenso dahingestellt wie die übermächtige Frage nach der Erklärbarkeit eines Genozids: die vielleicht Hannah Arendt mit dem Resümee der „furchtbaren Banalität des Bösen“ nachhaltig beantwortet hat.

Lukas Bärfuss

Hundert Tage

Wallstein-Verlag, 2008

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