Das Weiße zwischen den Worten

Literarische Kunststücke und eine Annäherung an das Unsagbare

Anna Mitgutsch: Das Weiße zwischen den Worten

Die Presse, März 2014

In ihrer weltläufigen Essaysammlung „Die Welt, die Rätsel bleibt“ vereint Anna Mitgutsch Überlegungen zu Heimat und Fremde, zu Medien und Macht und zur Sprache mit einfühl-samen Schriftstellerporträts. Literarische Kunststücke und eine Annäherung an das Unsagbare.

Sie meldet sich nicht donnernd in Debatten und ist abseits des medialen Scheinwerferlichts eine Ruhige im manchmal schrillen Literaturbetrieb. „Spectrum“-Lesern ist Anna Mitgutsch nicht nur als Romanautorin, sondern auch als feinfühlige Rezensentin und versierte Essayistin ein Begriff.

„Sprache braucht Zeit für ihre Entfaltung – wie alles Schöpferische. Sie braucht Konzentration und Langsamkeit, sonst gerinnt sie zu Gemeinplätzen.“ Anna Mitgutschhat in England, Asien und den USA gelebt, gelehrt und Literatur übersetzt. Sie hat Sprache von außen umkreist und teilt uns ihre sensiblen wie kenntnisreichen Wahrnehmungen über fluktuierende Identitäten, Verunsicherungen und Einsamkeiten im Essay „In zwei Sprachen leben“ mit. „Die Welt, die Rätsel bleibt“ vereint frühere, teils aktualisierte Aufsätze, Vorträge und neue Überlegungen zu Heimat und Fremde, zu Medien und Macht und immer wieder zur Sprache, deren Magie sie poetisch erschließt.

„Ist Schweigen Tugend oder Unvermögen?“ Jedem ihrer Aufsätze stellt die Autorin ein Motto als offene Frage voran. „Sie liebte es, Abwesenheiten zu evozieren. Was bleibt, ist eine konzentrierte Stille“, schreibt sie über Emily Dickinson. Kaum jemand in der österreichischen Literaturszene hat Grenzen und Fremdsein so behutsam vermittelt wie Anna Mitgutsch. Ihre Essays sind ernsthaft, sie deuten nur manchmal einen Hauch Kulturpessimismus an, etwa wenn es um neue Medien geht: Mitgutsch thematisiert das Unbehagen an medialen Bildern als Konsumgüter, die bloß die Gier nach mehr schüren und nivellieren, kurzum: Wie wir durch Unterhaltung, Werbung, Lifestyle zugemüllt werden. „Dem Fortschritt der Moderne wohnt eine Verschleißunruhe inne. Die Vergangenheit wird zunehmend entwertet, die Zukunft ihrer Substanz beraubt. Wer gegen diesen Strom schwimmen will, ermüdet rasch.“ Stets sind Mitgutschs Beobachtungen bestechend stringent, ohne besserwisserisch aufzutreten. „Literatur ist nicht der Ort für unmissverständliches, an den Leser gerichtetes Reden und ist auch nicht berufen, Antworten zu geben. Im besten Fall stellt sie die richtigen Fragen.“

Allzu oft wurden Mitgutschs komplexe Romanfiguren mit feministischen Positionen etikettiert und ihre bisher neun Romane auf Selbsterfahrungs- oder Frauenliteratur festgelegt. „In der Anlage autobiografisch, aber nicht in den Details“, hat die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro ihre eigene Prosa charakterisiert. „Erfahrungen sind das Rohmaterial, aus dem wir ein ganzes Leben lang schöpfen“, bekräftigt Mitgutsch, was sich in ihren Texten meist als Verschränkung individueller und kollektiver Erinnerung zeigt. Ihre Reflexionen über „Erinnern und Erfinden: Die Fiktionalisierung der Erfahrung“ zählen zum Erhellendsten des an Erkenntnissen reichen Essaybandes.

Seit Gilgamesch lagen jenseits des Horizontes die Gefilde der Sehnsucht, der Utopie, des Transzendenten, der Hoffnung auf Erlösung – und die Abgründe des Schreckens, der Auslöschung. „Einmal war der Horizont des Menschen der Kosmos, heute sind es die Gefängnismauern“, zitiert die Autorin zur Situation von Künstlern in Diktaturen aus dem Galeerentagebuch von Imre Kertész. „Sprachen sind Weltansichten“, beschwor demgegenüber Jürgen Trabant kürzlich Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt, „aber sie sind keine Gefängnisse.“ Doch wer in Opposition zu einem System steht, muss an ein anderes System glauben, und darin liegen, in Kertész‘ Klarsicht, die Fallen der Blindheit, der Lüge und der Korruption.

Sprache stellt nach der Shoah eine brüchige Brücke über den Abgrund dar, der zwischen Verhüllen und Enthüllen todbringend und Erkenntnis versprechend aufblitzt: Für Paul Celan lag der Abgrund nicht nur vor, sondern auch hinter ihm. „Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund“, zitierte er anlässlich der Bremer Literaturpreisverleihung 1958 Georg Büchner. „In der Literatur lieben wir die Gescheiterten“, sagt eine von Mitgutschs Romanfiguren, „auf ihrem Altar werden sie an unserer Statt geopfert.“ Schriftstellerporträts machen gut ein Drittel des Essaybands aus. Mehrere haben das Thema Fremdsein im Kern, von Herman Melvilles „Bartleby“, dem „Hungerkünstler der menschlichen Existenz“,zu Sylvia Plath, von Elias Canetti bis zum vergessenen Oberösterreicher Franz Rieger mit seinem Thema Ohnmacht: „Du kannst auf eine Gefahr verzichten, indem du ihr ausweichst. Der Ohnmacht aber kannst du nicht ausweichen.“

„In Arkadien nach Utopien schmachten“: Dem israelischen Autor Amos Oz hat Mitgutsch das längste Porträt gewidmet. Oz skizziert den Kibbuz als Keimzelle einer sozialutopischen Idee von säkularisierten Figuren mit messianischen Zügen biblischer Propheten. Ursprünglich Religionsersatz ist aus der Kibbuz-Imagination Alltag geworden. Doch die Erlösungshoffnung bleibt konstant, die Sehnsucht nach Ruhe am ersehnten Ort. Nur für Momente wird Ernst Blochs „ruhemächtiger Augenblick des Staunens“ als beglückendes Lebensresümee möglich, der Kompromiss aus Erreichtem und Erträumtem.

Ist dem 21. Jahrhundert das Transzendente endgültig abhanden gekommen? „Der Horizont ist der Sicherheitskordon des Diesseits, der unsere Sehnsucht zwar niemals erfüllt, aber für endlose Mutmaßungen offensteht, ohne unser Leben zu fordern“, meint Mitgutsch. Doch hat der Horizont in Kunst und Literatur als Chiffre ausgedient. Der Abgrund habe ihn abgelöst, vor allem der Zivilisationsbruch des Totalitären, „der unseren Glauben an die Werte der Aufklärung, der Religion und des Humanismus erschüttert hat.“ Dennoch: „Alle Ideologien des 20. Jahrhunderts sind an der Verwirklichung ihres destruktiven Potenzials zugrunde gegangen.“

In Mitgutschs Romanen wie auch in den Essays ist Wahrhaftigkeit eine Konstante, ohne Versatzstücke, ohne Klischees. Sie geht dem kaum Begreifbaren wie Liebe, Tod, dem Bösen, der Nachtseite von uns Menschen nach, verweist auf Mythen, Religion und das Unbewusste. Sie ertastet Grenzen, verdichtet Physisches und Metaphysisches, verbindet das Vernünftige und das Erahnte, stets im Bewusstsein, dass Innen und Außen nicht zu trennen sind. Sie begnügt sich nie mit dem Blick auf das sinnlich Empfundene und Erlittene, sondern macht auch das Unsichtbare zumindest spürbar. Sie erschließt die Zwischenräume, spürt das „Weiße zwischen den Worten“, wie Max Frisch es ausdrückte, und die unausgeloteten Tiefen.

Die Seele kann nicht ohne Bilder denken, meinte Aristoteles. Anna Mitgutsch erreicht erzählerische Intensität, ohne ihre Gedankenfülle in Metaphern zu ertränken. Ihre Sprache zu den großen Fragen von Vertrauen, Verantwortung und Schicksal ist nie mystisch aufgeladen, sondern klar. Ihre essayistischen Reflexionen sind ein Angebot: zu Achtsamkeit, zu Nachdenklichkeit, ohne in ein Resümee zu münden.

Anna Mitgutsch. Die Welt, die Rätsel bleibt

Essays, Luchterhand Verlag, München 2013

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