Valeria Luiselli

Poetin des Esperanto

Valeria Luiselli: Falsche Papiere

Wiener Zeitung, Juni 2014

Die mexikanische Schriftstellerin Valeria Luiselli debütierte mit assoziationsreichen Streifzügen durch reale und literarische Gefilde.

 

DSC08969sepiaIhr 2013 auf Deutsch erschienener Romanerstling „Die Schwerelosen“ machte Valeria Luiselli zum Jungstar der mexikanischen Literatur. Nun reicht der Verlag ihr im Original schon 2010 erschienenes Debüt nach: „Falsche Papiere“. Der Titel klingt nach Flucht, Exil? Gar Falschgeld?

Die Erzählerin ist in Bewegung. Zu Beginn streift sie über die venezianische Friedhofsinsel San Michele. Bald nimmt sie die Welt virtuell auf einem Flugzeugmonitor wahr, dann wieder ist sie im Moloch der Mexikanischen Hauptstadt, ihrer Heimatstadt, mit dem Velo unterwegs: „Die Geschwindigkeit des Fahrrads erlaubt eine besondere Weise des Sehens. Der Unterschied zwischen Fliegen, Gehen und Fahrradfahren ist genau der zwischen Teleskop, Mikroskop und Filmkamera.“ Wer einen halben Meter über dem Boden schwebt, sehe die Dinge wie durch eine Kamera, könne bei Details verweilen und sei frei, Unwichtiges zu vernachlässigen.

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DSC06014Die Stadtnomadin scheint in ihr Fahrrad verliebt, und ein bisschen auch in ihre hingeworfenen Betrachtungen zu Sprache, Kultur und Lebensgefühl, zu Bauwerken und Leerstellen einer Stadt. Luisellis intertextueller Stil ohne Plot folgt keiner fixen Form. Kurze Abschnitte, Gedankensplitter entwickeln Sog und Tempo, mit einer Vielzahl an literarischen Verweisen auf Barthes, Baudelaire, Baudrillard, Beckett, Benjamin, Borges, Brodsky, Pessoa, Proust – um nur einige zu nennen. Viele der Autoren, auf die sie Bezug nimmt, waren Exilanten. Luiselli selbst hat in Indien, Korea und Südafrika gelebt; sie schreibt Essays, ist Kolumnistin für die „New York Times“ und konzipiert Libretti für das New York Ballet. Auch ihre Gedanken sind nur vorübergehend verortet. Unbehaustheit scheint sich als Konstante eines zunehmend globalisierten und hybriden Literaturbetriebs des 21. Jahrhunderts herauszukristallisieren.

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DSC09012 KunstdrJulio Cortázar mit seiner Sprache zwischen Realität und Fiktion zählt zu Luisellis erklärten Vorbildern, doch verweigert sie sich dem großen lateinamerikanischen Erzählen. „Falsche Papiere“ ist in Kurz- und Kürzestkapitel getaktet. Luisellis unverstellter, sehr persönlicher Blick ist schöpferisch: „Nachts und von oben gesehen gewinnt das Tal seine flüssige Vergangenheit zurück“. Poetische Passagen über Mexiko-Stadt wechseln im Textkonglomerat mit essayistischen Betrachtungen wie: „die Seele prallt auf jede Ampel, der Blick wird zum Sklaven spektakulärer Werbeplakate“, um im selben Satz in ein angestrengtes „und die rätselhaft anarchischen Gesetze des Verkehrs setzen Vorgaben für die Einbildungskraft“ zu münden.

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Der Grundton ihres Schreibens sei der eines Flaneurs, schreibt Cees Nooteboom im Nachwort, und lobt dabei die Kombination aus Unbefangenheit und Intelligenz. Luiselli nimmt Erzählfäden auf, assoziiert bei ihren Wanderungen und Fahrten sprunghaft, leichtfüßig. Ihre Phantasie inspirierte die bei Erscheinen des Bandes erst 27-Jährige dabei weniger zu Stil- als manchmal zu bunten Zitatblüten: „Gewisse Dinge entziehen sich der direkten Beobachtung, und so ist es manchmal nötig, sich einen Vergleich zu suchen, ein schräges Licht, das auf das flüchtige Objekt fällt und einen Augenblick lang dasjenige fixiert, was uns entgleitet.“ Gelegentlich erscheinen Luisellis belesene Erwägungen etwas ambitiös geschraubt, und ihre Poesie gerät zur Pose, wenn sie schreibt: „Kinder sind die Poeten des Esperanto: Ihre Worte existieren in einer perfekten Entsprechung zur Welt.“

So wie es Wüstenreisende gäbe, müsse es auch Leser geben, die in einer klar formulierten Unbewohnbarkeit ihr Zuhause finden können, bemerkt Nooteboom. Man darf gespannt sein, in welche realen und literarischen Gefilde es die noch sehr junge Autorin künftig verschlägt.

Valeria Luiselli: Falsche Papiere.

Übersetzt von Dagmar Ploetz und Nora Haller.

Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 128 Seiten, 17,50 Euro.

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Valeria Luiselli:  Die Schwerelosen.

 Deutsch von Dagmar Ploetz

 Kunstmann Verlag, München 2013, 190 Seiten, 20,60 Euro

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Valeria Luiselli, geboren 1983 in Mexiko City, schreibt für Magazine und Zeitungen wie Letras Libres und die New York Times.

Sie hat für das New York City Ballet Libretti und den Essay-Band »Papeles falsos« geschrieben, der von der Kritik hoch gelobt wurde.

Ihr Romandebüt »Die Schwerelosen« ist in mehrere Sprachen übersetzt worden, ebenso ihre Essays.

Sie arbeitet als Lektorin, Journalistin und Dozentin und lebt in Mexico City und New York.

(Verlagsangabe)

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