Nikos Dimou: Satirischer Diskurs gegen Vorurteile
Die GriechenDeutschen sind an allem schuld
Geistreiche Reiselektüre und ein mutiges Plädoyer für wechselseitigen Respekt
Der Standard, Januar 2015
Wie die Griechen ticken, wussten wir schon länger. Nun gut, zumindest die letzten Jahre. Das Land stand am Pranger und beherrschte die Politik- und Finanzseiten, kaum das Feuilleton. Das nationale Kulturbudget wurde halbiert, und die Wirklichkeit hatte die antike Tragödie eingeholt. Über das Unglück, ein Grieche zu sein hieß eine 2012 auch auf Deutsch erschienene Aphorismensammlung des streitbaren Dichters und Essayisten Nikos Dimou. Darin ergründete er sein Land und die Menschen, zerrissen zwischen überhöhter Vergangenheit und zerrütteter Gegenwart, Orient und Okzident, Orthodoxie und Aufklärung.
Die GriechenDeutschen sind an allem schuld ist eine Fortschreibung jenes poetischen Pamphlets, diesmal fast durchwegs in Form ironischer Dialoge, einer Urform hellenischer Erkenntnis. Zum Teil stammen sie – wie etwa zur Empfindung „Griechenland fühlt sich immer mehr alleingelassen: eine geschwisterlose Nation“ – schon aus Zeiten vor der Finanzkrise. Brillant und scharfzüngig durchleuchtet Dimou die zwiespältige Identität seiner Landsleute und die wechselseitige Bewunderung und Häme im Verhältnis zu „Europa“, insbesondere zu Deutschland. Deutsche waren bei der griechischen Unabhängigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts tatsächlich mitverantwortlich, dass sich Griechen „als würdige Nachfolger der Alten Hellenen“ wahrnehmen: Winckelmann, Goethe, Hölderlin und Freunde sahen Griechen in einem „romantischen Irrtum“ als kultivierte Ästheten, während Hellas 1830 ein feudales Bauernland mit 98 Prozent Analphabeten war, die sich Romii, Römer nannten. Der Begriff Hellene war seit byzantinischer Zeit bloß eine – ansonsten verbotene – Bezeichnung für alte Götzendiener. Durch die Bürde einer verklärenden Liebe wurde das neue Hellas laut Dimou in eine Rolle gedrängt, der das Land mit seinen „Wurzeln im Osten und Zweigen in den Westen“ nie gewachsen war. Ergebnis war eine Suche, ja Sucht nach Licht, nach Anerkennung: „Seine Präsenz macht dich euphorisch – seine Abwesenheit depressiv“.
Für Dimou wird alles melodramatisch durch die Vergangenheit erklärt: Die Größe der „Neoaltgriechen“ entstand von innen, aus den Errungenschaften und Tugenden des antiken Athen, während das Böse in einer endlosen Traumaserie von außen kam. Perser, Römer, Papisten, Kreuzfahrerhorden, Osmanen, Slawen, Albaner, Türken, Briten, Amerikaner waren an allem Elend schuld; und nun die Deutschen. Letztere standen noch 2005 an bemerkenswerter erster Stelle der Popularität. Mit der Finanzkrise hat Antigermanismus den jahrzehntelangen Antiamerikanismus abgelöst. Zuletzt waren laut Dimou Russland und China die beliebtesten Länder, während der Sündenbock Deutschland „danach trachte, Ressourcen auszubeuten und den Süden verarmen zu lassen.“ Aber konsequenterweise würden in Griechenland dann auch die Lösungen von außen erwartet.
„Wir wachsen mit der Selbstüberschätzung auf, dass wir ein auserwähltes, ein mythisches Volk sind. Mythen können eine starke Droge sein. Andere Länder haben das auch erlebt.“ Einem einzigartigen Volk gebühre eine Sonderstellung. Doch Größe kann man nicht erben, weiß Dimou. „Dann werden wir mit der Wirklichkeit konfrontiert. Unser Minderwertigkeitskomplex ergibt sich daraus, die Denkweise des geprügelten Hundes, des Unterlegenen. Dahinter verbergen sich Ressentiment, Hass und Selbstmitleid“, die sich auch abseits der aktuellen Krise in Verschwörungstheorien und Hysterie entladen, etwa beim Namensstreit mit Mazedonien. Mit Logik, der von Griechen selbst stolz gepriesenen antiken Tugend, sei alldem leider nicht beizukommen.
Seine meisterhaften Einsichten verdeutlicht Dimou nicht in erschöpfenden Erklärungen, sondern mittels spritziger Streitgespräche zwischen fiktiven Griechen und Philhellenen: einem französisch-jüdischen Philosophen, einem deutschen Studenten, einer britischen Korrespondentin. „Ihr Griechen wart immer Kinder“, sagten laut Platon schon ägyptische Priester zu Solon. „Zwar Kinder“, fügt Dimou hinzu, „aber müde von den vielen Jahren, die hinter ihnen liegen.“ Und er identifiziert messerscharf den „Populismus als Aids des heutigen griechischen Lebens. Man gibt dem Volk, was es will.“ Nämlich Gefühle, Verdächtigungen, Ängste. Spätestens hier kann uns manchmal selbstgerechten (Nord-)Europäern, die wir gerne in den Süden hinunterblicken – einmal als Sehnsuchtsort, dann als gescheiterter Staat unfähiger Bankrotteure – bewusst werden, dass jedes weise Buch auch ein Spiegel für uns selbst ist. „Europa ist voll von besonderen Völkern“, meint der leidenschaftliche Kulturvermittler augenzwinkernd.
Dimou ist in seiner Heimat ein Star, hat sich mit seinen insgesamt 60 Büchern aber nicht nur Freunde gemacht. Die nunmehrigen amüsanten und klugen Dialoge sind eine ideale Reiselektüre und ein mutiges Plädoyer für wechselseitigen Respekt.
Nikos Dimou, „Die Griechen Deutschen sind an allem schuld.“
Deutsch von Mario Mariolea. 119 Seiten.
Verlag Antje Kunstmann, München 2014