Die Verschwundenen

Zwischen Matura und Midlife-Crisis

Die Verschwundenen

Wolfgang Popp treibt  literarische Verwirrspiele

Die Presse, Februar 2015

Ein Hauch Melancholie in fünf locker verwobenen Episoden vom Verschwinden und Wiederauftauchen alter Hirngespinste

Ein rundes Dutzend Jahre liegt die Reifeprüfung zurück. Mit einigen Mitschülern ist man in Kontakt geblieben; von anderen hört man nur noch Gerüchte oder gar nichts mehr – bis man sich vielleicht mehr oder weniger zufällig wieder begegnet.
„Roman“ steht auf dem Umschlag von Wolfgangs Popps Buch, doch es handelt sich um fünf nur locker verwobene Episoden mit fünf verschiedenen Erzählern, deren Sprache kein rasanter Jugend-Sound ist. Manchmal erinnert sie noch an altkluge Gymnasiasten-Sprüche, wenn auch schon eine Spur desillusionierter. Die Erzähler sind allesamt keine Helden, nur mäßig erfolgreich, sowohl ökonomisch als auch an ihren einstigen Plänen gemessen. „Unsere Gedanken waren groß, Scheinwerfer waren auf sie gerichtet, schön strahlten sie und die Zukunft wartete ungeduldig darauf, dass sie Wirklichkeit würden.“ Auf eine Zwischenbilanz einstiger Hoffnungen und Ambitionen lässt man sich nur zögernd ein.

Die „Verschwundenen“ hingegen sind spleenige bis skurrile Figuren, die oft zynisch grinsen, vom Mörder bis zum visionären Vordenker, wie etwa in „Felder oder mit dem Rücken zur Welt“, der zweiten Geschichte. Felder war als angehender Philosoph nach Cambridge ausgewandert und inszenierte dort sein Leben als Lügenkonstrukt, bis hin zu seinem frühen Tod und der letzten Ruhestätte neben Ludwig Wittgenstein – oder doch nicht? Ist alles nur eine Flunkerei des Erzählers? Oder enthält es eine höhere Wahrheit? Wolfgang Popp, geboren 1970 in Wien, mischt unterschiedliche Genres, vom Reiseroman bis zum Psychothriller.

Sichtlich Lust hat er an literarischen Verwirrspielen, etwa in „Heise oder die Sprache unterm Asphalt“. Diese, die gelungenste Geschichte des Bandes, mäandert zwischen einem Wiener Hinterhof, dem Dschungel Südamerikas und einer psychiatrischen Klinik. Hier hält der Autor die Spannung bis zum Schluss, während sie in einer anderen nicht so recht aufkommt: „Philip oder der Weg ist das Spiel“. Der gar lange Weg quer durch das Nachkriegs-Jugoslawien auf der Suche nach einer ausgestorbenen Eulenart und einer „Vita Nova“ im griechischen Delphi macht ein gutes Drittel des Buches aus. Der Erzähler – als Jugendlicher unter Philips selbstherrlicher Fuchtel – begleitet als Fotograf den nach Jahren wieder Aufgetauchten unsicher und gerät wieder in den Bann von dessen alten Hirngespinsten. Die kaum dramatische und manchmal skurrile Unterwegsgeschichte erinnert einmal an ein Traktat, dann wieder an einen Jim-Jarmusch-Film – der Autor ist als Kulturredakteur auch sachkundiger Filmkritiker.

In der kürzesten Geschichte hatte einst ein Lehrer einen „Gesichtsausdruck, der uns Schüler ernst nahm, schon Jahre bevor wir uns selbst ernst nehmen konnten“. Durch sein abruptes Verschwinden umwehte ihn der Nimbus des Geheimnisvollen – und plötzlich begegnet ihm der Erzähler, nun Gastrokritiker, in Süditalien. Der ehemalige Lehrer arbeitet im archäologischen Team von Pompeji und zeigt ihm frühmorgens in den Ruinen das ätherische Fresko eines Mädchens, über das er bereits in der Schule fasziniert doziert hatte. Nun sieht der Erzähler in der entrückten Darstellung immer mehr die Züge einer einstigen Mitschülerin. Und der Lehrer lässt ihn allein und konsterniert zurück.

„Die Verschwundenen“ erinnern nicht nur im Titel an W.G. Seebalds „Die Ausgewanderten“. Wolfgang Popp geht es weniger um Exilerfahrungen, sondern um Wiederbegegnungen. Obwohl die Gründe des Verschwindens eher individuell und meist weniger tragisch sind als für Seebalds Protagonisten: Ein Hauch Melancholie umweht auch Popps Figuren, manchmal auch eine ungelenke Ausdrucksweise.

In seinem als Kriminalroman deklarierten Erstling, „Ich müsste lügen“, hatte der Autor 2012 sein Potenzial an Witz und Figurenkonstruktion angedeutet, ohne es bei den „Verschwundenen“ ganz auszuschöpfen – wohl mit Absicht. Über die einzelnen Erzähler erfahren wir nur das Nötigste, und im Spiel um Sein und Schein lassen sich auch die wieder Aufgetauchten nicht dingfest machen. Nach Umwegen von England über Italien, den Balkan bis zu einer literarischen Referenz an Nicolas Bouvier in Sri Lanka schließt sich der Kreis der Geschichten wieder in Wien – und vieles bleibt offen. ■

Edition Atelier 2015

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