Hisham Matar: Geschichte eines Verschwindens

„Ich glaube nicht, dass er tot ist. Ich glaube auch nicht, dass er noch lebt.“

Hisham Matar: Geschichte eines Verschwindens

Der Standard, August 2012

Dem Arabischen Frühling folgt schon der zweite heiße Sommer. Im weiter repressiven bis chaotischen Umfeld und mit einer schwachen Verlagslandschaft sucht eine junge Generation neue Ausdrucksformen über Internet, Facebook, Blogs. Persönliches, Politisches, Künstlerisches sind im Fluss, verschmelzen, vertrocknen wieder. In Europa indes werden arabische Autoren mit Preisen überhäuft. Meist sind es altbekannte, moderate Männer, die im Ausland leben oder in einer europäischen Sprache publizieren.

Die gut zwanzig Staaten der Region produzieren zusammen noch immer weniger Bücher als die Türkei. Umgekehrt wurde ein Mehrfaches an Belletristik sogar ins Griechische als ins Arabische mit seinen 320 Millionen Sprechern übersetzt. Auch der 1970 geborene, in Tripolis aufgewachsene Hisham Matar lebt in London und schreibt auf Englisch. Im Land der Männer, dem ersten Roman, führte er 2007 mit dem Blick eines fassungslosen Kindes in ein Land der Angst, des Verrats und in das Innere einer Despotie, die die Seelen verheert.

Matars zweites Buch, Geschichte eines Verschwindens, ist ebenfalls kein spekulatives Nebenprodukt des Arabischen Frühlings – der Roman wurde noch vor dessen Anbruch 2010 fertiggestellt. Wieder hat Matar die Ich-Perspektive eines Halbwüchsigen gewählt: Nuri führt nach dem Tod der geheimnisvollen Mutter mit seinem Vater, einem wohlhabenden Exilanten, in Kairo ein komfortables Leben. Bis während eines Strandurlaubs Mona, eine englisch-arabische Schönheit in beider Leben tritt. Für Nuri wird sie Objekt aufkeimender Lustqualen: Mit 26 ist sie altersmäßig in der Mitte zwischen ihm und dem Vater, der Nuri heiratet. Nuri wünscht sich, der möge verschwinden, um die schöne Stiefmutter für sich zu haben. Der Wunsch geht in Erfüllung, brutaler als erträumt. Der Vater wird des Nachts von Häschern geholt – aus dem Bett einer Schweizer Geliebten.

Ein Elternteil verschwindet, ein Kind bleibt verstört zurück: ein Thema klassischer Heldenmythen und Nachkriegsliteratur. „Manchmal gibt es Zeiten, da lastet die Abwesenheit meines Vaters auf mir, als säße mir ein Kind auf der Brust“: Schon der erste Satz lässt dem Leser keine Hoffnung – doch eine magisch-knappe Sprache zieht in den Bann der Suche. In prosaisch klaren Sätzen webt Matar ein Geflecht aus wenigen Gewissheiten, verqueren Beziehungen, Stimmungen. Er beschreibt die Schwebe, die Vorhölle von Geheimnissen, Lügen und Schuld, umso mehr, als der Pubertierende und Mona im Verlustschmerz auf höchst unerlaubte Weise zusammenfinden. Der Autor ist dennoch an keiner Stelle spekulativ, weder erotisch noch politisch. Stets ist beklemmend spürbar: Das Geschehen kommt aus seinem tiefsten Inneren. Drei Jahre Schreibarbeit haben Matar an die „dunkelsten Orte seiner Seele gebracht“. Sein eigener Vater wurde von ägyptischen Geheimdienstmännern entführt und ist seither verschwunden.

Die Suche des literarischen Ich nach dem Vater und nach der eigenen Identität durch Genf, London, Kairo ist unschlüssig. Es ist zwar ein strukturierter, fast chronologischer Ablauf über mehr als ein Jahrzehnt. Doch kein Moment der Vergangenheit ist je abgeschlossen, sondern schwingt in den Gesten der Handelnden mit. Es ist keine Chronologie einer Verarbeitung, vielmehr eine Bestandsaufnahme. Der Originaltitel Anatomy of a Disappearance ist denn auch treffender als die – von Werner Löcher-Lawrence hervorragend ins Deutsche übertragene – Geschichte eines Verschwindens.

Nuri sucht die Schweizer Geliebte des Vaters, umkreist mit ihr, wie früher mit Mona, die Leerstelle des Verlustes und ist dann wieder allein. Nichts ist, wie es scheint. Jeder Blick hinter einen bekannt geglaubten Winkel der Vergangenheit bringt eine neue unbequeme Wahrheit ans Licht. Manches Familiengeheimnis wird gelüftet, andere bleiben angedeutet. In der Wut des unvermeidlichen Zerwürfnisses mit Mona nimmt diese Nuri posthum seine Mutter – und gibt ihm vielleicht seine wahre zurück: Naima, die zärtliche Haushälterin, war auch stets die Einzige, die ihm als Kind mehr Liebe und Nähe schenkte, als es Vater und vermeintliche Mutter je schafften. Nuris Frauenbeziehungen aber führen nach der frühen, verbotenen Liebe zu Mona ins Nichts. Matars Stärke ist die genaue Beobachtung ohne viel Symbolik, Analyse oder Lamento. Seine Prosa ist lapidar, manche Sätze sind in ihrer Sparsamkeit unwirklich schön, fast zu präzise ausgewählt. Im Leser entsteht kein eindeutiges Gefühl, nicht Entsetzen, nicht Wut, aber eindringliches Unwohlsein: Alle laden Schuld auf sich – auch Nuri.

„Alles kann sich von einem Augenblick zum anderen ändern“, heißt es an einer Stelle. Ob dieser Satz hoffnungsvoll oder bedrohlich ist, bleibt offen. Die Menschen im arabischen Raum sind darauf eingestellt, dass das Land trocken, hart ist. Der Name des Autors, Matar, bedeutet Regen. Ein Regime mag abgeschüttelt werden, die Zerstörungen in den Menschen wirken nach. Hoffnung wird meist positiv gesehen. „Aber wenn man so lange damit gelebt hat wie ich, ist Gewissheit erstrebenswerter“, sagt Matar. Sein eigener Vater bleibt verschwunden.

This entry was posted in Rezensionen. Bookmark the permalink.

Kommentare sind geschlossen.