Genozide erster, Genozide zweiter Klasse

Europäisches Erinnern & selektives Vergessen von Völkermorden

Genozide erster, Genozide zweiter Klasse?

Neue Zürcher Zeitung, Juli 2015

Der Massenmord an den Armeniern ist mittlerweile – fast – überall als erster Genozid des 20. Jahrhunderts anerkannt – und schwindet nach dem Hundert-Jahr-Gedenken schon wieder aus unserer Wahrnehmung. Jahrhunderte sind fiktive Zäsuren unserer abendländischen Zählweise: Historiker sprechen gerne vom «kurzen 20. Jahrhundert», die Jahre von 1914 bis 1989. Der Völkermord in Bosnien zählt dann ebenso wenig dazu wie derjenige in Rwanda oder der Genozid im heutigen Namibia, der zwischen 1904 und 1908 stattfand. «Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schiessen», hiess es im Vernichtungsbefehl des Oberbefehlshabers Lothar von Trotha im Herbst 1904. Ähnlich wie Armenier wurden die Hereros zur Vernichtung in die Wüste getrieben, zwei Drittel des Volkes ausgelöscht.

Schon das Bedauern fällt schwer

Bonn und Berlin verneinten stets einen Genozid, mit dem Hinweis, die Uno-Völkermordkonvention gelte nicht rückwirkend. Das mutet wie eine formalistische Kasuistik an, denn die Vereinten Nationen bezogen sich 1948 ausdrücklich auf den Völkermord an den Armeniern, jenen an den Hereros und den Holocaust. Dass eine Rückwirkung nicht möglich sein soll, spielte bei den Stellungnahmen des Deutschen Bundestages und von Präsident Gauck zum Armenier-Genozid jüngst keine Rolle mehr. Ein Antrag, die Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anzuerkennen, wurde im Bundestag abgelehnt.
«Deutschland hat sich für Verbrechen in Israel, Russland oder Polen entschuldigt, weil es um Weisse ging», beklagte der namibische Aussenminister Theo-Ben Gurirab 2004. Zumindest die deutsche Entwicklungsministerin bat damals um Vergebung. Seit 2009 gibt es in Deutschland neben dem umgewidmeten Bremer (mittlerweile Anti-)Kolonialdenkmal einen Erinnerungsort aus Steinen jener Wüste, in der Tausende Hereros und Namas einst verdursteten.

Die Schweiz und sogar Österreich ohne koloniale Vergangenheit scheinen fein raus zu sein. Doch in der Armenierfrage war Wien 1915 wie Berlin ein so willfähriger wie schweigsamer Verbündeter der Türkei. Gerade Deutschland kann man nicht vorwerfen, dass es geschichtsblind sei – doch andere historische Ereignisse stehen im Vordergrund.
Koloniale Massenverbrechen weit weg von universell-westlichen Werten füllen Schwarzbücher des Kolonialismus, etwa jene Belgiens im Kongo, Frankreichs in Algerien um 1960, Russlands in seinem Machtbereich, von Europa in Amerika, von Japan in Fernost. Schon der Ausdruck des Bedauerns fällt schwer. Erst 2001 anerkannte Frankreich die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschheit – und trotzdem betonte Präsident Sarkozy auch danach noch den «positiven Beitrag der französischen Kolonisierung».

Sind koloniale Völkermorde tatsächlich Genozide zweiter Klasse? Die Unterschiede zwischen Massenmord und Genozid muten manchmal nach makabrer Wortklauberei an. War die Herrschaft der Roten Khmer ein Autogenozid? Wie ist die «Liquidierung der Kulaken als Klasse» mit Millionen Toten bzw. der Holodomor in der Ukraine zu bewerten, wie die Rolle der Kirche bei der Conquista Südamerikas? Was sind «unglückliche Ereignisse», was «militärische Notwendigkeiten»? Wie ist es bei 100 000 Toten nach einer Atombombe auf eine Stadt, um ein rascheres Kriegsende herbeizubomben? Ist die Zahl der Opfer entscheidend oder eher die Absicht der Täter?

Hereros haben keine weltweite Diaspora, keine sprachgewaltige Lobby. Es gibt wenig Literatur, die an ihr Schicksal erinnert, wie es dem Schriftsteller Franz Werfel mit den Armeniern gelang. Bei der zurückhaltenden Anerkennung ist auch die Befürchtung einer Kaskade von Reparationsforderungen im Spiel, etwa von Native Americans oder einst unterdrückten Kolonialvölkern. Deutschland hat seit 1990 eine Milliarde Euro an Entwicklungsgeldern für Namibia bezahlt.

Wahrheit, Verantwortung, Versöhnung

Doch es geht eben nicht nur um finanzielle Wiedergutmachung – ein ohnehin unpassender Begriff. Das Wort Völkermord kommt nie leicht über die eigenen Lippen. Dass aus Opfern oft Täter werden, ist keine neue Erkenntnis, ob im Nahen Osten, in Rwanda oder in Nagorni Karabach. Die Gründe sind bekannt, ähneln sich und überraschen dennoch immer wieder: Fanatismus aus Komplexen, Aufhetzung, Rache oder schlicht Angst. Armenien etwa hält ein Viertel Aserbaidschans besetzt, eine Million Menschen leben dort als Flüchtlinge.

Europa hat durchaus Grund, stolz auf viele Entwicklungen der letzten siebzig Jahre zu sein. Doch selbst unsere Kinder werden in den kommenden Jahrzehnten mit einer Vielzahl unerquicklicher Jahrhundert-Jubiläen konfrontiert sein, wo es weniger zu feiern als zum Nachdenken geben wird. «Die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen»: Der Ausspruch des Philosophen George Santayana ist zum Allgemeinplatz geworden. Beim Blick in die Vergangenheit geht es weniger um einen Wettbewerb der Vorwürfe und Selbstbezichtigungen als um Anerkennung. Längst kann niemand mehr wegen Völkermord an Armeniern oder Hereros verurteilt werden.

Das Ungeheuerliche schamvoll mit einem Namen zu belegen, ist für das schlechte Gewissen eine Hürde, aber manchmal reinigend wie eine Beichte: befreiend für das Unterbewusste, und für die Zukunft. Es macht uns beziehungsfähiger, auch zum Dialog mit Nachkommen der Toten und Traumatisierten. Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka spricht von einem «Torbogen der Heilung». Er besteht aus Wahrheit, Verantwortung – und dann Versöhnung.

http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/genozide-erster-genozide-zweiter-klasse-1.18576763

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