Miljenko Jergović, Die unerhörte Geschichte meiner Familie

Liebe, Wirrnisse und Hass

Familienepos als Weltgeschichte

Ohne Balkan-Klischees legt Miljenko Jergović Verwerfungen des 20. Jahrhunderts bloß

Wiener Zeitung, September 2017

Je aberwitziger eine Landesgeschichte anmutet, desto üppiger ist oft die Literatur: Es gibt genügend Erzählstoff. „Ein Schriftsteller profitiert von Tragödien. Am besten ist eigenes Unglück,“ meint der kroatisch-bosnische Autor Miljenko Jergović trocken. Familienepen sind prädestiniert, sowohl zarte Fäden als auch Blutbahnen Generationen-übergreifender Gewalt literarisch zu verbinden. Mit „Sarajevo Marlboro“ gelang Jergović der internationale Durchbruch. Mittlerweile hat er fast 30 Bücher geschrieben. In „Vater“ näherte er sich den Turbulenzen der Historie auf bereits sehr persönliche Weise. Mit „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ – so der etwas pompös-sperrige Titel auf Deutsch – nimmt er sich nun die mütterliche Ahnenreihe vor. Der schlichte kroatische Titel „Rod“ – Verwandtschaft, Sippe, Herkunft – ist bereits vieldeutig genug. Als Roman deklariert, ist es ein literarisches Logbuch durch die Balkan-Stürme des 20. Jahrhunderts, wo sich die politische Kompassnadel noch beängstigender gedreht hat als in anderen Teilen unseres Kontinentes, mit all den Ismen- wie Nationalismus, Kommunismus, Faschismus, Fanatismus, Fundamentalismen aller Art, aber auch von trans-nationalen Utopien des Habsburgerreichs bis zum Versuch einer südslawischen Kollektividentität.

Jergović betritt das verschachtelte und verminte Haus der Geschichte über Nebeneingänge. Er erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, einmal geradlinige wie eine lakonisch-distanzierte Reportage, manchmal fragmentarisch, öfter episch breit, mäandernd-abschweifend, um die Heimsuchungen dann wieder ironisch-anekdotisch aufzubrechen. In Satzkaskaden taumeln die Vorfahren – Deutsche, Slowenen, Kroaten, Italiener, Bosnier – durch das 20. Jahrhundert und seine Katastrophen, von der K&K-Monarchie durch Jugoslawien und die Weltkriege bis in die Sezessionskriege der 1990er-Jahre, von einem Viertel in Sarajevo versprengt bis nach Graz, Italien, Brasilien oder Peru.

Breiten Raum nimmt das tragisch ambivalente Verhältnis des Erzählers zu seiner Mutter ein, die krebskrank von ihm am Telefon und am Sterbebett zum Reden über ihr „mit Ungerechtigkeiten randvoll angefülltes Leben“ angehalten wird. Jergović zeigt sich unverhüllt, wenn er die gegenseitigen Vorwürfe ausbreitet. „Sie nicht lieben ist fürchterlich und allumfassend, wie ein Magnet, der alles anzieht und ringsum Ödnis und Chaos“ hinterlässt.

Als Künstler der Erinnerung erzählt er in bisweilen magisch irisierendem Realismus von kleinen Helden, Angepassten und Berechnenden, von Intrigen, Zweifeln, kurzen Aufstiegen und tieferem Fall. Einer von vielen Schlüsselsätzen steht bereits lapidar auf Seite 10: „Am Ende sahen sich alle als Opfer“. Sie kultivieren ihre Verbitterung für die nachfolgenden Generationen, eine Saat, die als ethnisch-religiöse Erbarmungslosigkeit wieder aufgeht.

Fragen der Zugehörigkeit jenseits einer aufgezwungenen nationalen treiben Jergović um, der heute in Zagreb lebt, dort aber, wo die Politik wie auch andernorts von selektiver Amnesie befallen scheint, ein vielfach angefeindeten Autor ist. „Nationalismus auf dem Balkan ist von großem Selbsthass begleitet. Keiner von uns hat eine reine Identität, jeder ist auch der Andere, und den hassen wir in uns“, erkennt Jergović. Doch auf den 1140 Seiten legt es der Autor kaum darauf an, durch die Auswahl an opulenten Episoden aus dem Völker- und Religionsmosaik dem Leser Lektionen zu erteilen.

Er mischt harte Fakten und literarisch-spielerische Fiktion, sogenannte kleine Leute und Dämonen der Vergangenheit – und kokettiert damit, dass er übertreibt, lügt, verschweigt. Aber nie entsteht der bei der Lektüre mancher Familiensagas verstimmende Eindruck, skurrile Ereignisse und Landesgeschichte würden kalkuliert aufeinander hingebogen. Das packende Kaleidoskop an Albträumen und Abgründen, die Verwerfungen von Ambitionen, Traditionen, Ideologien und Moderne weisen weit über Balkan-Klischees hinaus.

Miljenko Jergović

Die unerhörte Geschichte meiner Familie

Deutsch von Brigitte Döbert

Schöffling & Co., Frankfurt 2017

1144 S.

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