Nach 50 Jahren Entwicklungshilfe wachsen Zweifel und Kritik an deren Effektivität
Investitionen statt Almosen
Wiener Zeitung, Mai 2012
„Hunger im Sahel – 7 Million Kinder betroffen. Schon 7 Euro retten ein Menschenleben!“
Diese Schlagzeilen aus dem Frühjahr 2012 konnte man auch in den vergangenen Jahren, ja bereits in den achtziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts lesen. Hat sich also gar nichts verändert? Auch darüber wird im Rahmen des Kongresses „Zukunft ohne Hunger“ zu reden sein, zu welchem die Caritas Anfang Juni nach Wien lädt, mit dem ehemaligen UNO-Generalsekretär Kofi Annan als Hauptredner.
„Humanitäre Hilfe“
Moralisch ist die Sache eindeutig: In weiten Teilen der Welt herrscht himmelschreiendes Elend. Milliarden von extrem Armen muss geholfen werden. Denn – soweit die nahe liegende Grundannahme – wir sind (mit-)verantwortlich: wegen des Kolonialismus einst, der ungerechten Weltordnung und unseren Lebensstils heute. Aber schlechtes Gewissen ist kein nützlicher Ratgeber.
Für uns Medienkonsumenten vermischen sich die Begriffe leicht. Hunger- oder Flüchtlingshilfe nach einem Krieg oder einem Tsunami ist „Humanitäre Hilfe“. Sie sollte nach der Akutphase in Aufbauunterstützung übergehen. NGOs wie hierzulande CARE, Caritas, Horizont 3000 und ein Dutzend anderer leisten mit engagiertem, hochqualifiziertem Personal Pionierarbeit und fördern lokale Initiativen, finanziert durch Spenden und öffentliche oder europäische Mittel. Der Löwenanteil an Geldern geht allerdings nicht in solche Projekte, sondern in Zuschüsse und Darlehen für Staaten, sowie in UNO-Programme, samt deren Verwaltung und Experten.
Zu Beginn der Entwicklungshilfe in den 1960er Jahren, als 30 afrikanische Länder ihre Unabhängigkeit erlangten, war gutgemeinter Wille das Maß. Dann wurden ambitiöse Masterpläne erarbeitet – die Entwicklungsländer sollten mit Großprojekten rasch die Industrialisierung nachholen – und durch immer neue Rezepte überholt.
Grundbedürfnisse rückten in den Fokus: Essen, Gesundheit, Infrastruktur. Im Ost-West-Konflikt kamen allerdings auch strategische Hilfen hinzu – und so manche dieser „Geschenke“ waren vergiftet, wie etwa Lebensmittelhilfen, die Marktverzerrungen schufen, oder gar Waffenlieferungen. Zahlreiche Länder landeten in der Verschuldungsfalle.
Später beeindruckten Zahlen: Je mehr Moskitonetze, Medikamente oder Solarkochöfen verteilt wurden, desto besser. Hochgelobte Teillösungen entpuppten sich aber oft als wirkungslos oder gar schädlich. Auf zahllosen Konferenzen, bei Entwicklungsbanken und unter NGOs wurde diskutiert, was Armut nachhaltig mindert: Gerechte Preise? Freier Marktzugang? Ideologiefrei waren diese hitzigen Debatten praktisch nie: Radikalliberale wollten Märkte als Schocktherapie öffnen. Für revolutionär Inspirierte musste zwar Kuba und Nicaragua geholfen, dafür aber Südafrika boykottiert werden. Andere diktatorische Regime in Afrika waren europäische Hinterlassenschaften, Opfer des Kolonialismus. Manche Visionen alternativer Wirtschaftsmodelle, die im Norden nicht funktionierten, wurden in den Süden projiziert.
Mikrokredite in Verruf
In den letzten Jahren sorgte das vom pakistanischen Nobelpreisträger Muhammad Yunus geförderte Mikrokreditsystem für Furore: Saatgut für Bäuerinnen, Netze für Fischer, Nähmaschinen für Schneiderinnen – Investitionen statt Almosen. Doch Menschen sind naturgemäß menschlich, daher wird Geld manchmal lieber für ein Familienereignis ausgegeben, für einen Fernsehapparat, oder einfach schlecht investiert. Die erhoffte Verbesserung in Gesundheitspflege und Bildung fand jedenfalls nicht in dem erhofften Ausmaß statt, noch seltener die Ermächtigung der Frauen: Viele wurden von ihren Männern zu Krediten überredet, manche begingen Selbstmord.
Das System geriet dadurch zu Unrecht generell in Misskredit. Mikrokredite können nachhaltige Investitionen in Kleinunternehmen bewirken. Allheilmittel sind sie aber ebenso wenig wie viele andere, in Jahrzehnten des Zu-viel-Versprechens als Patentlösungen angepriesene Entwicklungsideen.
Die heute anerkannten Parameter für Entwicklung wurden von der UNO zusammengefasst: Arbeit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichstellung, Nachhaltigkeit sind einige davon, die 2000 in acht griffige Millenniumsziele gegossen wurden.
Zwei der für 2015 formulierten Ziele wurden immerhin bereits erreicht. Knapp 90 Prozent der Weltbevölkerung verfügt heute über sauberes Wasser – 1990 waren es nur 76. Das bedeutet Millionen weniger Durchfallerkrankungen und tote Kinder. Und die Zahl der Menschen, die von weniger als einem US-Dollar (inflationsbereinigt heute 1,25) leben, hat sich halbiert. Die Freude von Medien und Entwicklungs-NGOs bleibt trotzdem gedämpft. Und das nicht nur, weil mit der Dramatisierungsfalle des K-Faktors – Krisen, Krankheiten, Katastrophen, Kriege, Kindersoldaten, Korruption – weiterhin die Negativschlagzeilen regieren, sondern auch, weil die rasanten Fortschritte hauptsächlich in Asien und in Lateinamerika erzielt wurden, dafür kaum in Afrika, dem Hauptempfänger von Entwicklungsgeldern.
Genau hier setzen Skeptiker an. In seinem Buch „The White Man’s Burden“ („Wir retten die Welt zu Tode“) stellt William Easterly die Frage, warum trotz offenkundiger Misserfolge die Entwicklungshilfe nicht an Popularität verliert. Lange wurden Kritiker aus der allzu politisch korrekten Debatte ausgegrenzt – bis sich vermehrt auch Afrikaner zu Wort meldeten. Axelle Kabou aus Kamerun etwa prangerte schon 1991 in ihrer Streitschrift „Weder arm noch ohnmächtig – gegen schwarze Eliten und weiße Helfer“ die Unfähigkeit afrikanischer Führer an, den Kontinent aus eigener Kraft weiterzuentwickeln.
Sie wurde als Verräterin geschmäht. Doch die Zahl der Afrikaner nahm zu, die Entwicklungshilfe ablehnen, vom nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka bis zum kenianischen Ökonomen James Shikwati, der Anfang Juni auch nach Wien kommen wird.
2009 wurde die bestens ausgebildete, dazu attraktive und eloquente Afrikanerin Dambisa Moyo mit ihrem Bestseller „Dead Aid“ zum Darling der Kritiker. Ihre Thesen im Kern: Nach zwei Billionen an Entwicklungsgeldern stehe Afrika schlechter da als zu Beginn der „Almosenindustrie“. Der Kontinent bewege sich in einem Hamsterrad aus Abhängigkeit und Korruption. Entwicklungshilfe sei also das, was Karl Kraus einst über die Psychoanalyse sagte: nämlich die Krankheit, für deren Therapie sie sich halte.
Widersacher werfen Moyo vor, populistische Halbwahrheiten zu verbreiten. Ihre Aussagen sind zwar polemisch, im Inhalt aber durchaus differenziert: So betont sie etwa, dass Krankheiten wie Malaria nur auszurotten sind, wenn gute Hilfsprogramme auch effektiv genutzt werden.
Die Stimmen von afrikanischen Skeptikern, welche die eigene Verantwortung einfordern, werden in Europas aufgeklärten Kreisen ungern gehört. Sie ähneln einander aber in zentralen Punkten: Hilfsgelder – laut dem Ghanaer George Ayittey die Summe von sechs Marshallplänen seit 1960! – stabilisieren korrupte Regime. Ohne Entwicklungshilfe müssten die Regierenden Gewerbe, Landwirtschaft und Handel fördern, Steuern einheben – und wären so endlich dem Volk verpflichtet.
Ähnlich argumentieren die Initiatoren des „Bonner Aufrufs für eine andere Entwicklungspolitik!“ rund um Volker Seitz, der in seiner Schrift „Afrika wird armregiert“ anprangert, dass die Gleichung Mehr Geld = Mehr Entwicklung nicht aufgehe. Entwicklungshilfe sei die Umverteilung des Geldes der Armen aus den reichen Ländern an die Reichen aus den armen Ländern, ätzte schon der Ökonom Peter Bauer.
Problemfall Afrika
Die offizielle österreichische Entwicklungshilfe ist mit kaum 0,27 Prozent des BIP einigermaßen weit vom deklarierten OECD-Ziel 0,7 Prozent entfernt. „Ein Tiefpunkt und international beschämend“, kritisiert Ruth Picker, Geschäftsführerin der Dachorganisation AG Globale Verantwortung stellvertretend für die heimischen NGOs. Doch schon die Frage: Was ist positive Entwicklung? führt zu lebhaften Debatten.
Entwicklungspolitik sah in China oder Brasilien Direktinvestitionen und Kapitalmarktzugang vor, während Afrika bisher hauptsächlich eine hilfsbasierte Politik zuteil wurde. Eine Kultur der Ab- und Ausgrenzung wurde geschaffen, wobei laut Dambisa Moyo selbsternannte „Afrika-Kenner“ jedweder Couleur zu Worte kommen: Selbstversorgung statt Diktat der Märkte; Fair Trade als einwandfreies Modell. Small mochte oft beautiful sein, aber nicht immer helpful. Von weltweit rund 1,1 Billionen Dollar an ausländischen Direktinvestitionen allein im Krisenjahr 2010 entfielen nur drei Prozent auf Schwarzafrika. Kaum ein von Hilfe abhängiges Entwicklungsmodell war dort wirklich erfolgreich. Und Afrikas Anteil am Welthandel sank in den letzten 50 Jahren dramatisch um zwei Drittel auf unter zwei Prozent – und das inklusive Südafrika und der Ölländer.
Obwohl also der Erfolg von Entwicklungsgeldern mehr als fraglich ist, fordern Showgrößen in Glamour-Aid-Konzerten unbeirrbar mehr vom selben. „Eine Milliarde Afrikaner will nicht für Entertainment verwendet werden“, erbost sich Dambisa Moyo, „Wir wollen zur globalen Wirtschaft gehören.“ Mitleid allein ist tatsächlich kein guter Businessplan.
Längst sind die Länder Ostasiens trotz aller Wachstumsschmerzen auf der globalen Überholspur, als Produzenten, Rohstoffhungrige und neue Geberländer. Wir im Westen beklagen Budgetnöte und schauen fasziniert-erschrocken auf Chinas Expansion in Afrika. Agrobusiness breitet sich dort aus – was sich bei uns in Berichten von „Land Grabbing“ niederschlägt und neue Feindbilder schürt. Skeptiker sehen eine skrupellose neokoloniale Ausbeutung der Bodenschätze, Afrikaner verweisen auf Investitionen ohne die verhasste Bevormundung. 1,2 Milliarden Inder haben heute mehr und bessere Lebensmittel als 450 Millionen Inder vor 50 Jahren – weniger durch Entwicklungshilfe oder Öko-Initiativen, sondern dank einer grünen Revolution. Produktivitätssteigerungen konnten in Asien und Südamerika den Hunger besiegen, doch die Rahmenbedingungen – Landrechte, die Vergabepraxis – sind in Simbabwe oder im Sudan selten fair, und funktionierende Institutionen oder Umweltstandards kaum vorhanden.
Trotz seiner gegenwärtigen Krise hat der Westen weiterhin aufklärerische Ziele. Patentrezepte zur Rettung der Armen gibt es keine, aber doch einige Erfolgsmodelle. Im Bereich (Aus-)Bildung ist gut koordinierte Entwicklungszusammenarbeit sinnvoll, bei der Ausrottung von Polio oder Pocken war sie nachweislich erfolgreich. Die Bill- und Melinda-Gates-Stiftung managt heute mit kaum einem Zehntel des Personals der WHO ein ähnliches Milliarden-Budget – oft effizienter.
Privatsektor gefragt
Anderswo hat (markt-)wirtschaftliche Entwicklung mehr gebracht. Doch ungezügelter Raubtierkapitalismus ohne Rechtsstaat hat verheerende Folgen. Beim Aufbau transparenter, partizipativer Strukturen ist technische Hilfe nötig. „Wir dürften Lernprozesse nicht ersticken“, wissen Christian Manahl, stellvertretender UNO-Beauftragter für Somalia, oder der Diplomat Georg Lennkh aus langjähriger Entwicklungserfahrung in Verantwortungspositionen. Afrika braucht Direktinvestitionen, die Technologie und Jobs bringen, etwa in der Infrastruktur, in Glasfaserkabeln, Solarenergie, bei biogenen Reststoffen.
Brigitte Öppinger-Walchshofer, Geschäftsführerin der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA), unterstreicht dabei die wachsende Bedeutung des Privatsektors. Dies sei keine Einbahnstraße – es lohne sich für beide Seiten: vom investierten Kapital fließe eineinhalb Mal soviel zurück. „Wirtschaftspartnerschaften ja – solange sie Arbeits- und Umweltrechte respektieren und Arbeitsplätze vor Ort schaffen“, meint dazu NGO-Vertreterin Ruth Picker.
„Entwicklungspolitik ist eine Querschnittsmaterie“, sagt Max Santner, der beim Österreichischen Roten Kreuz für Internationale Hilfe zuständig ist. „Handelspolitik, Agrarpolitik, Finanzpolitik haben die stärksten entwicklungspolitischen Hebel.“ Fairer Handel und gerechte Preise für Rohstoffe waren zu lange Leitmotive der Entwicklungsdiskussion. In den letzten Jahren haben sich die Weltmarktpreise von Öl, Erzen, Kaffee, Soja und Getreide vervielfacht – doch damit keine Lösung gebracht, sondern Abhängigkeiten verfestigt und neue Konflikte geschürt.
1,5 Milliarden Menschen sind von Bürgerkriegen, Repression oder Kriminalität betroffen. Ethik und eine entsprechende Politik haben also keineswegs ausgedient, um den Teufelskreis von Gewalt und Armut zu durchbrechen. Das umfassende Wohlergehen jedes Einzelnen muss im Zentrum stehen, betont Wolfgang Petritsch, Österreichs Vertreter bei der OECD. Bei Konfliktverhütung und Friedenssicherung oder im Umweltschutz ist internationale Zusammenarbeit unabdingbar. Nicht nur in fragilen Situationen braucht es lokale Partizipation, partnerschaftliche Unterstützung – sowie supranationale Institutionen.
Die Bedeutung rasant wachsender Volkswirtschaften wie Brasilien, China, Indien oder südostasiatischer Tigerstaaten wird sich künftig in den Entwicklungs- und Finanzinstitutionen spiegeln, aber auch zu einem verstärkten Erfahrungsaustausch Süd-Süd führen. The white man’s burden wird also abnehmen. Was uns freilich nicht von unserer – auch finanziellen – Verantwortung für globale Herausforderungen wie etwa den Klimawandel befreit.
———
https://www.wienerzeitung.at/h/investitionen-statt-almosen
Erwähnte Autorinnen / Literatur:
William Easterly, „Wir retten die Welt zu Tode. Für ein professionelleres Management im Kampf gegen die Armut“
Deutsch von Petra Pyka, 388 Seiten, 24,90 EUR, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006
Axelle Kabou, „Weder arm noch ohnmächtig. Eine Streitschrift gegen schwarze Eliten und weisse Helfer“ Deutsch von Monika Brüninghaus und Regula Renschler, 260 Seiten, € 14.50, Lenos Pocket, Basel 2009
Dambisa Moyo, „Dead Aid. Warum Entwicklungshilfe nicht funktioniert und was Afrika besser machen kann“
Deutsch von Hendrik Lorenzen, Verlag Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2011, 226 Seiten, 16,40 €
Volker Seitz, „Afrika wird armregiert oder Wie man Afrika wirklich helfen kann“, 219 Seiten, € 14,90, dtv, München 2009
James Shikwati, „Die Optimierungsfalle. Warum sich Afrika aus der westlichen und asiatischen Entwicklungshilfe befreien muss“, E-Book, Muhrmann Verlag
Georg Lennkh, Irene Freudenschuss-Reichl (Hrsg.), „Nachbar Afrika. Dimensionen eines Kontinents“, 316 Seiten, € 40,10, Passagen Verlag, Wien 2010