Demokratie, globale Machtstrukturen und Konfliktlösungen

 

Nachwort zu

Das SK-Prinzip: Wie man Konflikte ohne Machtkämpfe löst

Ueberreuter Verlag

Postmoderne Demokratie, globale Machtstrukturen, zweckdienliche Konfliktlösungen

Wer erinnert sich noch an einen Zeitgeist-Historiker namens Francis Fukuyama, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vollmundig das „Ende der Geschichte“ ausrief? Es war – nach all den gescheiterten Ideologien des 20. Jahrhunderts – der ultimative Anspruch, das Paradies wäre schon diesseits des Grabes erreichbar. DSC_0202Der Jugoslawienkrieg in Europa, blutige Konflikte in Nahost, Asien und Afrika, ein neuer Kampf der Kulturen haben uns rasch eines Besseren belehrt. Globalisierung, neue Akteure wie transnationale Konzerne und Terrorgruppen sind Herausforderungen einer zunehmend vernetzten Welt mit Problemen, die in ihrer Komplexität oft schwer verständlich erscheinen: Gesundheitskosten, Pensionsdynamik, Informationsbeschleunigung, Effizienzsteigerung, Zweidrittelgesellschaft, Asylproblematik, Ölpreise, Klimaveränderung, neue Seuchen, selbstmörderische Gewalt  – um nur wenige Schlagwörter zu nennen. Immer seltener empfinden wir, konstruktiv zu Lösungen beitragen zu können.

Seien wir ehrlich: wir alle wünschen uns manchmal einfache Muster für eine zunehmend komplexe Welt – wenn nicht gelegentlich gar einen Wunder-Zampano, der mit klaren Worten und entschiedener Hand Probleme einfach löst. Wir wissen, wie komplex ein einzelner Mensch ist. Warum sollten größere Gemeinschaften einfacher sein? Nur Demagogen bieten simple Antworten.

Ermüdungserscheinungen…

Innerhalb europäischer Demokratien machen sich zunehmend, wenn schon nicht tiefe Krisen, so doch Unwohlsein und Ermüdungserscheinungen breit. Die nach dem Zweiten Weltkrieg überall hohe Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich – und in den letzten Jahren immer schneller. Politmüdigkeit ist mehr als ein Schlagwort, während gleichzeitig diffuser Ärger über „die da oben“ zunimmt – und Populististen auf den Plan ruft, die mit schlagkräftigen Parolen einfache Lösungen versprechen.

Solange die Weltwirtschaft und damit das soziale Gefüge halbwegs stabil bleiben, entlarven sich Demagogen über kurz oder lang selbst. Wie rasch der Rückfall in Barbarei möglich ist, zeigt nicht nur der tägliche Blick auf Fernsehbilder, sondern auch ein selbstkritischer in unsere eigene Geschichte: Würde unsere Demokratie eine tiefere Krise wie in den späten zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts unbeschadet überstehen?

Winston Churchills ironisches Bonmot: „Demokratie ist die schlechteste Staatsform, ausgemommen alle anderen…“ gilt noch immer, hat aber mehr denn je einen resignativen Beiklang. Allenthalben nimmt die Skepsis gegenüber etablierten demokratischen Formen zu, die Generationen vor uns erkämpften. Wir setzen sie heute als gegeben voraus, ja wir rümpfen gelegentlich über deren Unzulänglichkeiten die Nase, um uns manchmal enttäuscht, oder sogar angewidert abzuwenden. Selbst bei optimistischer Sicht erscheint die heutige Demokratie – bei allen nationalen Spielarten – als ein Telos der Geschichte, als die fast naturnotwendig höchste Form des politischen und sozialen Lebens, die – wenn schon nicht perfekt – so doch kaum mehr weiter entwickelbar ist.

…erfolgreicher Demokratiemodelle

Unsere Demokratie ist das – noch immer – beste System, das wir in der Geschichte der Menschheit entwickelt haben – im Idealfall selbst erkämpft und aufgebaut wie etwa in der Schweiz. Demokratieimport durch die Westmächte nach dem Fiasko der totalitären Erfahrung der vorangegangenen Jahre funktionierte in Deutschland und Österreich, weil dieser Neubeginn auf den – zugegebenermaßen fragilen – demokratischen Wurzeln der Ersten Republik aufbaute.

Noch so wohlgemeinter – so man das überhaupt annehmen will – Demokratieimport kann dort kaum Fuß fassen, wo die gesellschaftlichen Strukturen paternalistisch, diktatorisch, totalitär, oder wie auch immer sonst undemokratisch sind: Beispiele jüngster Vergangenheit sind Afghanistan und Irak, auch der Kaukasus oder Zentralasien. Internationale sowie Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) konnten selbst am europäischen Balkan nur mit größtem Aufwand an Truppen, Geld und massiver ziviler Aufbauhilfe zu einer halbwegs akzeptablen Stabilisierung der Lage beitragen – von „failed states“, gescheiterten Staaten in anderen Teilen der Welt gar nicht zu reden.

Voraussetzungen für Erfolg …

Die traditionellen demokratischen Mechanismen mit periodischen Wahlen allein sind, wie wir erkannt haben, nie genug. Eine funktionierende Demokratie braucht weit mehr als regelmäßige Urnengänge: akzeptierte Grundwerte, Bindungen und ein Selbstverständnis über Clanloyalität hinaus, Bildung, freie Medien, eine florierende Wirtschaft, Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz gegen Korruptionsversuchungen und unvermeidlichen Machtmissbrauch, aber vor allem die aktive Beteiligung der Menschen sind – auch bei uns – Grundvoraussetzungen nachhaltigen Funktionierens. Wenn – trotz (schon das Wort klingt sperrig!) Gesetzesbegutachtungsverfahren durch Interessensgruppen – die politische Frustration der Menschen über erkennbare Schwächen des Systems zu einem Ohnmachtgefühl wird, ist das Gefüge bedroht. Ansätze zur Änderung wie die Bundesstaatsreform in Österreich oder den Europäischen Verfassungskonvent gibt es: Aber sie bleiben weitgehend die akademischen Diskussionsforen einer kleinen Elite, und verebben bald wieder in den Wogen der Machtkämpfe von Interessensgruppen, Parteien und Strukturen. Das Volk fühlt sich ausgeschlossen.

Die Systemgrenzen unseres Demokratiemodells liegen auch dort, wo Akteure den verfestigten Strukturen und Gesetzmäßigkeiten von Kampf um die Macht, Machterhalt, Kampf gegen die Macht verhaftet scheinen – oder zumindest ausgeliefert. Starre Regierungskoalitionen oder Parlamente mit Clubzwang lassen auf höchster Ebene, und unter dem lüsternen Blick von Medien („wer fällt um…?“) wenig Spielraum. Änderungen “top-down“, von Regierungen, gar von der internationalen Staatengemeinschaft, also von “irgendwo ganz oben” zu erwarten wäre naive Illusion.

Egal ob auf nationaler Ebene oder auf dem internationalen Parkett: Mächtige lassen sich selten freiwillig in ihrer Macht beschneiden. Oft fehlt sogar die grundlegende Freiheit des Handelns, ja des Denkens in neuen Mustern. Regierungen und Parlamente werden äußerst selten mehr als nur Spiegel kleinerer Strukturen sein – manchmal Zerrspiegel, die kranke Machtstrukturen bis ins Groteske verdeutlichen.

Es ist ja grundsätzlich positiv, wenn die Skepsis gegenüber mächtig scheinenden Akteuren wächst, die bei all den Herausforderungen – national wie weltweit – in kleinliche Machtkämpfe verstrickt scheinen. Dennoch: Politiker, Manager, Diplomaten sind manchmal, aber längst nicht immer die zynischen Spieler der Macht, als die sie in Medien erscheinen. Letztere leben gerade von Skandalen und Katastrophen – getreu dem  Schlagzeilencredo: “only bad news are good news for us”. Die Gesetzmäßigkeiten einer globalisierten Wirtschaft machen selbst die Akteure zu Re-Agierenden, die scheinbar selbstbewusst, aber oft verzweifelt versuchen, den Lauf der politischen und ökonomischen Dinge im weltweiten Wettbewerb noch halbwegs beeinflussen zu können. Diese nationalen Re-Aktionen und Reflexe erscheinen dabei – wie Visotschnig und Schrotta an einigen Beispielen veranschaulichen – des öfteren zwanghaft und kurzsichtig, aber selten visionär. Die traditionellen Macht- als Nullsummenspiele stoßen mit hergebrachten Demokratiemustern in ihrer Problemlösungskompetenz an ihre systemischen Grenzen.

… und Weiterentwicklung der Demokratie

Veränderungen, Weiterentwicklungen – wenn sie nachhaltig sind – kommen von unten: sie sind zarte Pflänzchen, die von Menschen gepflegt werden müssen, damit sie nicht verkümmern oder zu Wildwuchs verkommen. So wurzelte die Grünbewegung in den 68er-Ideen, in der Unzufriedenheit mit kaum erfolgter tieferer Aufarbeitung einer Führergesellschaft, im Nicht-Akzeptieren des kalten Krieges und seines Vernichtungspotentials, und im Erkennen, dass unbegrenztes Wachstum zu Umwelt- und Ungleichheitsproblemen führt, die unsere Lebensgrundlagen bedrohen. Grüne, NGOs, globalisierungskritische Bewegungen wie Attac heute zeigen – egal, wie man dazu steht – dass neue Ansätze und Partizipationsformen Erfolg haben können. Ihre Ideen werden – bei entsprechender Weiterentwicklung – Teil des politischen Mainstream. Auch wenn hehre basisdemokratische Ideale gerade durch die Anpassung an die gültigen, unperfekten Demokratieformen Schiffbruch erleiden.

Traditionelle Konsensmodelle …

Es geht nicht darum, das Rad – die Demokratie – neu zu erfinden, sondern kreativ in der Anwendung und Weiterentwicklung zu sein. Die grundsätzliche Idee, Entscheidungen durch Konsens, das heisst durch Kooperation aller statt durch Mehrheitsentscheid zu treffen, ist dabei nicht neu: Traditionelle Gesellschaften, religiöse oder anarchistische Gruppen haben sie bereits in der Vergangenheit angewandt. Auch mit Nachteilen von Konsensverfahren wurde Erfahrung gemacht: Eine Mehrheit oder ein Mächtiger kann durch – wir sollten nicht naiv sein – offene oder verborgene Mechanismen der Macht gewaltigen Druck auf Minderheiten ausüben. Das kann zu einer kontinuierlichen Form von Nötigung – individuell oder systemisch – Schwächerer führen – vom vergleichsweise subtilen “Augenrollen” einer dominanten Mehrheit in “friedliebenden” Kleingruppen bis zu drastisch pervertierten Formen in revolutionären “Volksversammlungen”, wo dissidente Meinungen unter “Zustimmung” Betroffener bestraft, und letztere gebrochen werden.

… und ihre Schwächen

Es gibt Internationale Organisationen wie die OSZE oder sogar die NATO, die nicht nach einem Mehrheits-, sondern nach einem einfachen Konsensprinzip operieren: alle beteiligten (Mitglieds)Staaten müssen eine Entscheidung mittragen. Das klingt hoffnungsvoll konstruktiv – und bleibt doch oft graue Theorie: Kreative, integrative Lösungen sind schwer, solange de facto das Recht des Stärkeren gilt, der eine Palette traditioneller Machtmuster hat um Druck auszuüben. Selbst das Konsenserfordernis zumindest der fünf Nachkriegs-Großmächte im UN-Sicherheitsrat – der nach Völkerrecht das Gewaltmonopol besitzt – bleibt Schimäre, wenn eine Weltmacht nicht vordergründig Sicherheit, sondern Hegemonie anstrebt und – mehr oder weniger im Alleingang – Gewalt anwendet, wie etwa das Irakkriegs-Beispiel der allerjüngsten Geschichte zeigt. Ein Hegemon und etliche Vassallen – nicht unbedingt das Modell von Konsens, das uns vorschwebt.

Umgekehrt kann das Veto eines Einzelnen jegliche Entscheidung blockieren. Oder es kommt fallweise zu Kuhhandel bzw. einem Minimalkonsens, der alle unglücklich macht: Denken wir an den Europäischen Verfassungskonvent, oder auch an die OSZE, wo absoluter Konsenszwang zur lähmenden Stagnation führen kann.

Die Voraussetzung…

Einige Voraussetzungen für bisherige Konsensverfahren sind das Verantwortungsbewusstsein und das Engagement sowie der freie Wille aller zur Kooperation, und nicht zuletzt ausreichend Zeit. Bei relativ homogenen, kleineren Gruppen ist dies leichter als bei großen Gemeinschaften mit komplexerer Interessenslage. Mit der boomenden Mediation – von Ehescheidung bis zu Betriebsanlage- bzw. Umweltverfahren – wurden neue, konstruktive Wege gegangen. Mediations- und Transformationsverfahren bei bewaffneten Konflikten, die auf tieferen Ressentiments und alten Feindschaften basieren, setzen nicht zufällig an der Basis an und/oder werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Sie brauchen Zeit, um das nötige Vertrauen wachsen zu lassen. Dann haben sie Chancen auf nachhaltigen Erfolg.

Wir sollten auch die möglichen Grenzen herkömmlicher Konsensverfahren erkennen: Stark polarisierte oder asymetrische Situationen sind nur schwer im Konsens zu lösen – Beispiel Atomlobby gegen Kernkraftgegner. Aber auch bei anderen Themen wird es immer wieder Entscheidungen geben, mit der nicht alle Mitglieder einer Gruppe einverstanden sind.

Kein noch so guter Mechanismus kann irdische Unzulänglichkeiten wie von selbst heilen. Der menschliche Charakter – mit all seinen Schatten – ändert sich vielleicht nie. Eine Erkenntnis alter Weisheit und moderner Psychologie gilt aber weiter: Das menschliche Verhalten ist – positiv wie negativ – beeinflussbar. Ängste und Eitelkeit, asymetrische Strukturen, Machtstreben und Konflikte wird es immer geben. Unser Umgang damit lässt sich verbessern.

… des Erfolgs neuer Modelle ...

Das nun von Visotschnig und Schrotta weiterentwickelte, differenzierte SK-Modell beseitigt einige wesentliche der skizzierten Schwächen, unter anderem die Blockaden durch das Veto Einzelner. Dabei benötigt es nur vergleichsweise geringen Zeitaufwand, ist für viele unterschiedliche Standpunkte geeignet, die zugleich verhandelt werden, und gelingt auch dann, wenn anfänglich keine Kooperationsbereitschaft vorhanden ist.  Diese entsteht vielmehr – wie die Autoren zeigen – konsequent und systembedingt im Laufe des Verfahrens. Konsensieren ist damit einerseits ein vielversprechendes Mittel, traditionelle Machtkämpfe um Entscheidungen in unterschiedlichsten Gruppierungen, wenn schon nicht zu verhindern, so doch kreativer zu lösen. Und es gibt auf der anderen Seite den Menschen neue Möglichkeiten, sich auf politischer Ebene jenseits periodischer Wahlen – wo Macht an starre Gruppierungen delegiert wird – an Entscheidungen zu beteiligen.

Das SK-Prinzip ist damit – auch – ein Mittel gegen Pessimismus: Es gibt uns ein anwendbares Rüstzeug, zwischenmenschliche Herauforderungen kreativer zu gestalten, sowie mehr Menschen aktiv in die Gestaltung einer zunehmend komplexen, sich immer schneller verändernden Welt einzubinden – ohne ein Wundermittel zur Aufhebung aller menschlichen Schwächen zu sein: das versprechen nur Ideologien oder andere Religionen.

… und die Chancen zur Umsetzung

Getreu dem ewig gültigen Spruch „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ liegt es an uns, in unseren Händen, unseren Gedanken, unseren Ideen, an unserer Umsetzung, ob sich die Welt positiv verändert, weiterentwickelt. Warten wir nicht, bis es „irgendwer“ tut. Jede noch so kleine Gruppe kann ihre – wie Visotschnig und Schrotta ausführen – Erfahrungen machen, überraschende Erfolge erzielen, neue Erkenntnisse gewinnen. Dass der Ueberreuter-Verlag auch schon mit Hilfe des SK-Prinzips entschieden  hat, ist sicher kein Zufall.

Gunther Neumann hat Geschichte, Wirtschaft, Ethnologie, Völkerrecht & Internationale Beziehungen in Wien und Paris studiert; später Weiterbildung in Mediation. Als Korrespondent in Zentralamerika und Südostasien sowie als Vertreter des Roten Kreuzes in Westafrika war er lange Jahre Beobachter und Analytiker lokaler und internationaler Konflikte. Seit 1998 ist er stellvertretender Direktor der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

 

 

ISBN: 978-3800070961
Erich Visotschnig, Siegfried Schrotta
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