Eine literarische Annäherung an den Kontinent und sein Selbstverständnis
Europa – jetzt erst recht
Mehr als die Summe seiner Ängste
Wiener Zeitung, Juni 2016
Ein Kontinent hadert mit sich selbst. 16 Autoren teilen Mythen und Erfahrungen
Europa ist in aller Munde, doch die Stimmen sind kaum optimistisch. Wenn wir aus der Kakophonie schriller Töne ein Leitmotiv heraushören, dann lautet es: Krise. Enttäuscht von Politik und Wirtschaft, suchen wir bei der Kultur nach Antworten. 16 namhafte Autoren nähern sich in einem Sammelband dem Thema, auch von den Rändern des Kontinents oder vom Meer, wo unser aller migratorische Anfänge lagen. Ist Europa, die von Zeus entführte phönizische Prinzessin, je angekommen, fragt Uwe Beyer, der Herausgeber des Bandes. Die Erzählungen und Essays tauchen in Mythen, in Schmerzzonen, die sie hinterfragen.
„Europa – jetzt erst recht! Das ist mir sympathisch. Im allgemeinen Krisengerede dagegenzuhalten. Nicht einzustimmen in das Wehklagen, das allzu wohlfeil ist“, hält Karl Schlögel gegen den verbreiteten Pessimismus. Nicht alle möchten sich dem Osteuropa-Historiker anschließen. „Muss man immer das Haar in der Suppe finden?“, fragt Adolf Muschg beim Gang durch eine geliftete baltische Altstadt: „Ja, wenn das Haar eine ganz andere Geschichte erzählt.“
Viel ist naturgemäß von Flucht die Rede, und von selbst erlebter Fremde, wie etwa bei Peter Härtling oder Vladimir Vertlib. Martin Horváth liefert dazu eine exemplarische Parabel, und Ralph Dohrmann entwirft in magisch-poetischer Prosa eine Dystopie, in der Europäer nach Nordafrika oder Vorderasien fliehen.
Ein Kommen und Gehen, ein Vergehen und Erhalten-Bleiben
Die aus der Slowakei stammende Schweizer Buchpreisträgerin Irena Brezna geht unser Verhältnis zum „Fremden“ pointiert-klug an, und die Kulturpublizistin Verena Stössinger reist bis zu den Färöer-Inseln im sturmgepeitschten Norden. Was Europa eigentlich vereint, meint Olga Mannheimer schalkhaft-ironisch, ist wohl das Misstrauen gegenüber einem vereinten Europa. Tanja Dückers wird für ein gemeinsames Identitätsgefühl beim Soziologen Ulrich Beck fündig: eine europäische schließt eine Herkunftsidentität nicht aus.
In sich polyphon ist Iwona Mickiewicz’ Text, ein Chor aus Ost und West, Nord und Süd: Konstant ist für eine ihrer Stimmen die Veränderung, das Kommen und Gehen, das Vergehen und Erhalten-Bleiben. Kein Autor kann die Deutungshoheit über Europa für sich allein in Anspruch nehmen. Eine singuläre Vision von Europa wird es nie geben. Diese Vielfalt macht die Kraft des Bandes und Europas aus.