1984 reloaded

Beklemmende Endzeitvision

1984 reloaded

Boualem Sansal entwirft in „2084“ die düstere Vision einer Glaubensdiktatur

Wiener Zeitung, Juli 2016

„2084. Das Ende der Welt“: Unheilsprophezeiungen haben Saison. Im verunsicherten Europa finden sie fruchtbaren Boden, wenn sie auf den Islamismus anspielen

Das namensgebende Jahr 2084 liegt längst in dunkler Vergangenheit. Abi, allmächtiger, nie gesehener Herrscher, Prophet Yölahs, des Allmächtigen, und seine „Gerechten Bruderschaft“ herrschen über Abistan, einem düsteren Reich, befreit von Schönheit, Liebe, Träumen. Allgegenwärtig ist nur Bigaye, „Big Eye“, Pendant von George Orwells „Großem Bruders“: Selbst ohne Mobiltelefone oder Internet reicht der Blick des „Großen Auges“ bis in die Gehhirnwindungen der Menschen, aus denen jede Erinnerung getilgt ist, oder sich nur als „verschwommener Wahn bei alten Demenzkranken“ hält. In Abistan, das trotz moderner Waffen eher einem 1084 als einem 1984 oder gar einem futuristischen 2084 ähnelt, herrscht ewige Gegenwart. Individuelles Denken gibt es längst nicht mehr. Selbst das Idiom Abilang, Abistans Neusprech, ist eine Regression, in dem der Ausdruck abweichender Gedanken unmöglich ist. „Unreine Sprachen“, die durch „Erfindungen verderben“, sind verboten.
Sansals Protagonist Ati kuriert in einem festungsartigen Sanatorium – 1984 eingerichtet, wie ein Gewölbebogen verrät – seine TBC aus. Das karge Ouâ-Gebirge gibt ihm nicht nur physische Lebensgeister zurück, sondern öffnet ihm auch die Augen für die „undenkbare Wirklichkeit“. Bei der Entlassung wird Ati als „zu überwachen“ klassifiziert. Sein Abstieg aus dem Bergsanatorium dauert ein Jahr. Er sucht, trifft eine Handvoll zweifelnd Gleichgesinnter, kommt in „Umverteilungszentren, wo sich riesige Menschenmengen kreuzen“. Analogien zu gegenwärtige und künftige Migrationsströmen sind wohl nicht zufällig.

Massenhinrichtungen als Momente intensiver Kommunion

In wenigen Ghettos überleben „antike Bevölkerungen, die trotz aller Hindernisse an den alten Häresien festhalten.“ Auch wenn willkürliche Massenhinrichtungen – von Ati einst als „Momente intensiver Kommunion“ selbst befürwortet – wie „erlesene Schauspiele“ gefilmt und übertragen werden: Technik spielt im obskurantistischen Abistan kaum eine Rolle. Es ist eine totalitäre Glaubensherrschaft, Willkür ist Programm. Selbst die Schergen des Apparates wissen nicht, wie alles funktioniert.
Sansals Sprache ist einmal dicht, fesselnd, gesättigt von Propagandaformeln, dann wieder trocken, distanziert, mit Stilmittel der Wiederholung, wie auch die monotone Handlung nicht wirklich unterhaltsam ist, sondern bedrückend wie das unheimliche Reich Abistan. Auch die Figuren, bei denen „der Glaube an den Wahn und die Wahrheit an die Angst gekoppelt“, erscheinen oft seelenlos leer.
Seit dem Erscheinen 2015 hat sich „2084“ im nach diversen Anschlägen verunsicherten Frankreich gut 300 000 mal verkauft und wurde vielfach Preisgekrönt. Die aktuellen Ereignisse und gesellschaftlichen Debatten haben dabei sicher ihren Anteil. 2011 hatte Sansal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Er sei ein ebenso leidenschaftlicher wie geistreicher Autor, hieß es in der Begründung.
Im Gegensatz zur damals euphorischen Hoffnung in Europa war Sansal von Anfang an skeptisch gegenüber dem „arabischen Frühling“. Der algerische Bürgerkrieg der neunziger Jahre, dessen Bestialität bei uns weit weniger medial präsent war als jene des Syrien-Krieges heute, haben den noch immer im Land lebenden Sansal geprägt. „In Algier hatten wir das Gefühl, wie in Klausur dem Ende der Welt beizuwohnen“, schrieb er 2013 in seinem Essay „Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert“. Deutschlands Willkommenskultur sei ebenso naiv wie der Traum von einem sanften Islam.
Mit den Krisen und dem religiösen Fundamentalismus, dem gegenüber Europa zwischen ängstlicher Abwehr und bemühter Toleranz zaudert, blicken viele zeitgenössische Romane in die Zukunft. Fast alle sehen sie schwarz. In der Vision einer umfassenden Glaubensdiktatur geht Sansal weiter als Michel Houellebecq in seiner fast zeitgleich erschienenen „Unterwerfung“, doch kommt er ohne Blasphemie und Provokation aus. Er lebe in einem Letzte-Tage-der-Menschheit-Gefühl, meint der diskussionsfreudige Sansal kürzlich im Gespräch mit Iris Radisch. Europa mit seiner Freiheit und seinen Werten gibt er verloren. Beim beißend klugen Autor ist keine spekulative Lust an der Apokalypse spürbar: Sein Pessimismus ist ihm trauriger Ernst.

Boualem Sansal
2084. Das Ende der Welt
Roman, aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky
Merlin Verlag 2016
281 S., 24.70 Euro

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