Alain Mabanckou, Die Lichter von Pointe Noire

Alle Literatur handelt von Heimatverlust

Gespinste der Erinnerung

Alain Mabanckous Rückkehr in das kongolesische Pointe Noire

Wiener Zeitung, Januar 2018

Bei der Frankfurter Buchmesse 2017 hatte die weite französischsprachige Welt ihren literarischen Reichtum, ihre Vielschichtigkeit und Vitalität präsentiert. Eine der herausragendsten Stimmen ist dabei Alain Mabanckou aus dem „kleinen“, dem ehemals französischen Kongo. Mabanckou hat ein Dutzend furioser Romane, vielbeachtete Erzählungen, Essays und Gedichtbände veröffentlicht. Die „Lichter von Pointe Noire“ sind autobiographische Betrachtungen des Autors zur ersten Rückkehr in die Stadt seiner Kindheit am Atlantik. 23 Jahre zuvor hatte er die Heimat verlassen, erst Richtung Frankreich, dann in die USA, wo er an der University of California in Los Angeles französischsprachige Literatur unterrichtet.

Bürde des Ausreißers

Zunächst vorsichtig und prosaisch tastet sich Mabanckou durch die Gespinste der Erinnerungen, in erster Linie an seine Mutter, und an seine Schuldgefühle, dass er – als Einzelkind – nicht einmal für ihr Begräbnis zurückgekommen war. Bald lässt der Autor die Zeit seiner Jugend und die damalige Geisterwelt wiederauferstehen. Gleichzeitig beobachtet er die Veränderungen von Pointe Noire, „zerfressen in ihrer anarchistischen Ausdehnung“. Soll er sich der Dunkelheit oder den gleißenden Lichtern anvertrauen? Er „borgt seine Füße dem einstigen Paradies“, wandert „mit der Bürde der Undankbarkeit“, des Ausreißers durch die Hafenstadt, die „noch immer mit einem Auge döst, während aus dem anderen eine unstillbare Träne fließt, eine Art Nebenfluss zur Côte Sauvage“, der wilden Küste, während nun manche Wege in einer Sackgasse enden, wo „abgeladener Müll einen Berg bildet, der den Horizont verstellt“.

Alain Mabanckou wühlt sich durch die Tiefen des Königreichs seiner Kindheit, taucht hinab in Prophezeiungen und Aberglauben. Er trifft Philosophielehrer, Schwadroneure, hoffnungsvolle junge Schriftsteller, Prostituierte und nicht zuletzt Verwandte: manche hatten ihn als Kind liebevoll umsorgt, andere konfrontieren ihn jetzt mit begehrlichen Erwartungen an den erfolgreichen Auswanderer.

Kindheitserinnerungen setzen sich oft weniger aus Worten denn aus Bildern zusammen, an denen sich Erfahrungen abgelagert haben. Nicht zufällig ergänzen zerknitterte, teils intim-berührende Schwarz-Weiß-Aufnahmen Mabanckous Text, dessen Kapitel in Filmtitel seiner Jugend getaktet sind: Kinos gaben damals ganzen Stadtvierteln von Pointe Noire ihren informellen Namen. Für den Halbwüchsigen war der „Rex“-Filmpalast ein magischer Platz, der Helden aus aller Welt herbeizauberte, und wo zumindest für zwei Stunden Knaben-Träume in Erfüllung gingen. Jahrzehnte später steht er vor dem Rex, das nun winzig wirkt. Der einst mythische Ort der „Siebten Kunst“ ist eine Kirche der Pfingstbewegung geworden, ähnlich anderen Kinosälen, die allesamt zu Wirkungsstätten von Predigern diverser Erweckungs-Sekten umfunktioniert wurden.

Heimatverlust

„Alle Literatur handelt von Heimatverlust“, sagt Mabanckou. Wohl wahr, wobei: „Der Heimatbegriff wird nur in Bezug auf die Vergangenheit bewirtschaftet“, beobachtet etwa der bosnische Schriftsteller Saa Staniić mit Blick auf die politische Instrumentalisierung allenthalben. „Wir müssen anfangen, erstrebenswerte Zukunftsvisionen zu entwerfen“, ergänzt der pakistanische Erfolgsautor Mohsin Hamid, „sonst bleiben uns nur nostalgische Ideen.“

Mabanckou glorifiziert nicht, aber er bejammert auch den Wandel nicht. In seinen preisgekrönten Romanen hat er virtuos und komisch, sprachgewaltig und politisch unkorrekt mit Mythen und Vorurteilen gespielt. „Die Lichter von Pointe Noire“ sind nicht so überbordend wie die absatzlosen Satzkaskaden in „Stachelschweins Memoiren“ oder „Zerbrochenes Glas“, sondern nachdenklicher, einmal mit intellektueller Distanz, dann in intimer Nähe, traurig, schmerz- und liebevoll, und immer wieder poetisch.

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Alain Mabanckou

Die Lichter von Pointe Noire

Roman. Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind, München 2017, 266 Seiten

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