Amnestie – nicht Amnesie

Ein Plädoyer für das Erinnern, die Aufarbeitung – und das Vergeben

Amnestie – nicht Amnesie

Der Standard, August 2001

Richtige Argumente, falsche Schlüsse.

Zu Rudolf Burgers „Irrtümern der Gedenkpolitik“ und sein „Plädoyer für das Vergessen“

Bewährt provokant vertritt Prof. Burger seine Thesen – und reizt zum Widerspruch. Nur als Provokation kann wohl der Philosoph bewusst Amnestie (Begnadigung) mit Amnesie (Gedächtnisverlust) vermischen wollen. Richtig: Die griechische Wurzel ist ähnlich. Die unterschiedlichen Bedeutungen aber sind evident.

Recht hat Burger, wenn er schreibt, dass die Pauschalbeschuldigungen der Nachkriegswelt gegen Deutschland – und erst viel später, aus gegebenem Anlass, auch gegen Österreich – eher Rechtfertigungsreflexe als Einsicht geweckt haben. Die lange dominante “Kollektivschuldtheorie” hat massiven Schaden angerichtet.

Echte Aufarbeitung hat nichts mit endloser “Mea culpa, mea culpa” – Selbstbezichtigung zu tun. Das Christentum hat fatalerweise das Schuldprinzip in unsere Kultur tief eingepflanzt, und ein nüchternes Ursache-Wirkungs-Denken überlagert. Wer lässt sich gerne beschuldigen? Die logische und psychologische Reaktion ist Abwehr, nicht Einsicht. Wer Kollektivschuld politisch oder psychologisch einzuhämmern versuchte – wie etwa der von Burger zitierte C. G. Jung, oder dogmatische Moralapostel – hat letztlich das Gegenteil bewirkt: Mörder werden mit allen anderen in einen Topf geworfen. Wir haben die „Faschismuskeule“ als Todschlagargument politischen und gesellschaftlichen Diskurses auch allzu oft gehört und gespürt. Kollektivschuldzuweisungen führen zu fataler Solidarität mit Täter. Was die Kollektivschuldthese wieder nährt. Ein Teufelskreis, eine nicht enden wollende Debatte, deren Ende Herr Burger herbeisehnt, herbeizuschreiben versucht. Mit guten Argumenten – und falschen Schlüssen.

Keine Gefühle sind vor Ausbeutung und Geschäftemacherei gefeit. Und Erpressung mit moralischen Mitteln findet immer wieder statt, in der Politik wie in jeder menschlichen Beziehung. Auch darin hat Herr Burger Recht. Ihm ist nicht zu unterstellen, dass es Nazigräuel leugnen will. Doch Thesen und Wirken des zitierten Eugen Kogon – oder von Bruno Kreisky,  Norman Finkelstein durch andere – zu gebrauchen, um triumphierend aufzuzeigen: Seht ihr, die sagen auch „Schwamm darüber“, ersetzt nicht notwendige Aufarbeitung des Geschehenen, um es dann auch abzuschließen zu können.

Für die Erfassung der Folgen von Verdrängung sind keine psychoanalytischen Tiefgänge nötig. Antike Mythen, Religionen dramatisieren das menschliche Schicksal und Schuldverstrickung einmal offen, einmal verschlüsselt: Vergehen des Einzelnen fallen auf das Individuum oder seine Sippe zurück. Beteiligt sich das Kollektiv an der Vertuschung des Sündenfalls, so rächen sich Götter und Schicksal am Volk. Kollektivlügen wenden sich langfristig immer gegen die Verschleierer. Trotz Weisheit der Erfahrung oder einfach Hausverstand: Politiker aller Länder und Zeiten wollen sich gegen diese Tatsache dank egoistisch-populistischer Kurzsichtigkeit mit ebenso bemerkenswerter wie fataler Beharrlichkeit verschließen.

Es gibt – bei all den unendlichen Nuancen menschlichen Verhaltens – keine Kollektivschuld. Sehr wohl aber kollektive Verantwortung. Ziel ist nicht ewiges Widerkauen von Gräuel oder Opferkult wie jener der von Burger zitierten Serben vom Amselfeld, sondern Aufarbeitung und Abschluss als historisches Faktum. Das heutige Jugoslawien steht vor dieser Herausforderung, und die Weltgemeinschaft tut gut daran, Einzelverantwortung einzufordern, Hilfe anzubieten statt Kollektivschuldzuweisungen gegen das gesamte Volk zu üben. Gerade wo Täter ungenannt bleiben, kann kein Vergeben, und kein Vergessen stattfinden. Für die Frauen der argentinischen Plaza de Mayo wie der von Srebrenica bedeutet Unwissen über das Schicksal ihrer Söhne, Männer nur kurz Hoffnung, bald Marter: Das Wissen um den brutalen Mord ist bitter, aber setzt durch Klarheit einen für das Weiterleben nötigen Schlusspunkt.

Ein nüchternes Ursache-Wirkungsprinzip im politischen wie historischen Dialog ist nicht nur effektiver als das Schuldspiel: Taten erfordern Verantwortung, noch in diesem Leben. Wenn möglich auch Einsicht. Eine Gesellschaft, die keine Verantwortung für die Aufarbeitung von (Un)Taten übernimmt, wird sich immer wieder kollektiv mit Schuldbezichtigung von außen konfrontiert sehen.

Nachhaltige Modelle, sinnvolle Wege zu Katharsis, zu Aufarbeitung und Abschluss gibt es noch immer wenige. Südafrika hat mit seiner „Wahrheitskommission“ einen möglichen beschritten. Täter werden ermittelt, Untaten benannt. Strafen haben keinen Revanchecharakter. Amnestie bei Geständnis ist möglich. Den Opfern wird so genüge getan, ohne Rachegelüste zu nähren. Dann kann der Prozess – ohne Gesichtverlust einer Seite – auch abgeschlossen werden. Obwohl es nicht so aussah: Südafrika hat den Übergang ohne Bürgerkrieg und Massenexodus geschafft. Das benachbarte Simbabwe geht den Weg der populistischen Revanche, mit entsprechenden Folgen.

Kein Friedensmodell ist eins zu eins übertragbar. „Wahrheitskommissionen“ als Instrument der Aufarbeitung statt der Rache erfordern herausragende Persönlichkeiten von der Größe eines Nelson Mandela. Politiker mit Weitblick über populistische Eigeninteressen hinaus sind selten. Wenn das Umfeld durch Chauvinismus oder Revanchegelüste verseucht ist, haben selbst Persönlichkeiten wenig Chance: Briand und Stresemann mussten bei der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland in den zwanziger Jahren letztlich in beiden Ländern scheitern. Nach den Erfahrungen des „Friedens“  von Versailles 1919 verzichteten die Alliierten nach 1945 nicht zufällig auf Reparationen – mit Erfolg. Einzelverantwortung dagegen wurde bei den Nürnberger Prozessen sehr wohl eingefordert. Verurteilungen durch die oft hämisch so genannte „Siegerjustiz“, aber auch Freisprüche einiger Angeklagter haben die Gesamtheit des deutschen Volkes beträchtlich entlastet – was bis heute nur erstaunlich wenige erkennen wollen.

Amnesie, Gedächtnisverlust, ist medizinisch ein pathologisch-krankhafter Zustand. Wenn er durch die „Täterseite“ gefordert wird,  ist es zur Vertuschung, zur Leugnung des Geschehenen nicht mehr weit. Egal ob beim Genozid an Armeniern in der Türkei, Naziverbrechen oder der Vertreibung der Sudetendeutschen, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Amnestie  dagegen setzt Bewusstsein voraus, und erfordert einen aktiven Prozess unter Einbeziehung von Tätern und Opfern: Einsicht und Einzelverantwortung auf der einen, Bereitschaft zur Vergebung auf der anderen Seite. Beides ist nicht wechselseitig einforderbar, sondern entsteht durch Dialog. Ohne Beschuldigung oder Selbstbezichtigung. Elie Wiesel, Lord George Weidenfeld und manche andere sind vielleicht bessere Lehrmeister als Norman Finkelstein oder Rudolf Burger, denen es auf eine verkürzte Pointe anzukommen scheint, die dann von der falschen Seite auch leicht manipulierbar ist.

Unsere Kultur hat nicht nur Mozart und Bertha von Suttner hervorgebracht, sondern auch Hitler und Eichmann. Wir können uns ruhig der gesamten Palette menschlicher Höhepunkte und Abgründe stellen: Von der Genialität zur  Bestialität. Vielleicht hilft es, uns selbst besser, klarer, ehrlicher zu erkennen, und damit neue Lösungswege ohne Sieger und Verlierer zu gehen.

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