Der Kongo
Flickenteppich für Plünderer
Wiener Zeitung, Oktober 2006
Der Kongo könnte das reichste Land Afrikas sein, wenn er ein halbwegs funktionierender Staat wäre. Einblicke in eine krisengeschüttelte Region.
Drei Millionen Tote, möglicherweise fünf Millionen, nach einem Jahrzehnt Krieg – hochgerechnet, nicht gezählt. Durch Kämpfe, Hunger, Seuchen, AIDS, Ebola, Pest, Malaria. Sozusagen ein Ruanda auf Raten. Abgehackte Glieder und CNN auf Stippvisite – Blitzlichtsequenzen aus dem „Herzen der Finsternis“. Oft hört man bei uns die Meinung: „So sind sie halt dort unten: Wilde. Aber die Menschen vermehren sich ja dennoch, trotz Krieg und Aids. Kann also nicht so schlimm sein.“
Joseph Conrads Kongo-Roman „Das Herz der Finsternis“ bezog sich nicht auf die vermeintlich Wilden vor Ort, sondern auf die Machenschaften Weißer im Privatbesitz des belgischen Königs, der über ein Reich herrschte, das hundertmal größer war als sein Heimatland. Schon zuvor hatten afrikanische Mittelsmänner, Vorgänger heutiger Warlords, den Europäern Sklaven für Amerika verkauft. Dieselben Schiffe brachten Kolonialwaren aus der Neuen Welt nach Europa, verschifften Alkohol und Waffen, um für die Sklaven am Kongo zu bezahlen.
Weltkrieg in Afrika
Nach den blutigen Wirren der Entkolonisierung 1960 und der Ermordung des Unabhängigkeitshelden Patrice Lumumba hatte Mobutu Sese Seko mit westlicher Unterstützung eine groteske Kleptokratie errichtet, nicht abstruser als Idi Amins oder Bokassas Regime, nur langlebiger. Schließlich völlig morsch, wurde Mobutus Herrschaft von Laurent Kabila mit ruandischer Unterstützung 1997 beendet. Nach eineinhalb Jahren Chaos brach der Krieg, geführt von einer Soldateska aus einem halben Dutzend Nachbarstaaten, erst richtig aus. Die Demokratische Republik Kongo ist ein Fleckerlteppich, auf dem Plünderer so viele Bodenschätze wie möglich einsacken. “ Du kannst nie das Fleisch eines ganzen Elefanten essen“, lautet ein kongolesisches Sprichwort. Für Warlords und ihre ausländischen Komplizen gibt es noch genug zu holen. Eine Handvoll Gewinner und Millionen Verlierer. Lachende Kinder, aufgewachsen im Elend, spielen Krieg, bevor sie rekrutiert werden. Milizionäre mit Sonnenbrillen, Handlanger lokaler Herrschaft, vergewaltigen, schlitzen Schwangeren die Bäuche auf. Zehntausende Kindersoldaten, ihrer Jugend beraubt, eine Million Frauen vergewaltigt, oft noch als Kinder.
Die US-Außenministerin Albright sprach vom ersten afrikanischen Weltkrieg. Ein Gemetzel im Stil des 30-jährigen Krieges, der einst Europa ein Jahrhundert zurückwarf. Direkte Konfrontation mit bewaffneten Gegnern wird vermieden, stattdessen die Zivilbevölkerung terrorisiert. Landsknechte erhalten keinen Sold, leben von Plünderungen und Geschäften mit Unternehmen, die bezahlen. Der Krieg ernährt sich selbst. Bis Ermattung einsetzt. Das schien 2003 der Fall, als sich die Kriegsparteien auf einen Friedensschluss einigten, Macht und Schätze unter sich aufteilten und Wahlen vereinbarten. Die fremden Truppen zogen ab, während ihre lokalen Schergen weiter plündern, Mineralien, Diamanten, Gold. Organisiert und abgewickelt von afrikanischen Generälen, libanesischen Händlern, westlichen Paten, die, diskreter als in Kolonialzeiten, im Hintergrund bleiben.
Coltan, unentbehrlich für die Computerindustrie, wurde zum Symbol, wie ein Grundstoff den Krieg anheizt. Regionale Hauptprofiteure waren Uganda und Ruanda, dessen Armee den Ostkongo eroberte und zum weltgrößten Coltan-Exporteur aufstieg. Wäre er ein halbwegs funktionierender Staat, könnte der Kongo das reichste Land Afrikas sein.
Die UNO kam, verschrieb zunächst Aspirin, während rundum Metastasen wucherten, überließ 2003 einen Teil der blutigen Sache der „Operation Artemis“ der eben neu gebildeten EU-Militärstreitmacht Eufor. Artemis, die vierbrüstige, jungfräuliche wie fruchtbare Göttin, Jägerin, Herrin der Tiere – ein origineller Name. Die EU durfte ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik militärisch erproben. Die dreimonatige Mission wurde von Strategen als Erfolg und Vorbild für künftige EU-Interventionen bewertet. Militärische Intervention aus humanitärer Verantwortung und ökonomischem Eigeninteresse.
Monuc, die Mission der UNO im Kongo, hat heute mit fast 20.000 Mann die größte UN-Präsenz weltweit. Nach früheren Skandalen (mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger) ist die Monuc mittlerweile straffer geführt, ihr Ruf hat sich deutlich gebessert. Bei der Organisation der nunmehrigen Wahlen war sie nicht wegzudenken, wofür die EU gut die Hälfte der Kosten von 350 Millionen Euro übernommen hat. Das Material für 50.000 Wahlbüros (Wahlzettel, Lampen, Kugelschreiber, Plastiktische) wurde aus Südafrika eingeflogen.
Favorit Kabila
Die erste Runde der Wahlen am 30. Juli verlief erstaunlich gut und transparent ab. Angesichts fehlender staatlicher Verwaltung und eines inexistenten Transportwesens (600 km asphaltierter Strassen für ein Land, das 28mal so groß ist wie Österreich) ein Wunder, das durch UNO-Logistik und den engagierten Einsatz von 300.000 lokalen Wahlhelfern möglich wurde. Von 31 Präsidentschaftskandidaten kamen zwei in die Stichwahl am 29. Oktober.
Joseph Kabila, der 35-jährige Sohn des 2001 ermordeten Laurent Kabila, ist Präsident einer Übergangsregierung mit vier Vizepräsidenten und rund 70 Ministern. Aus dem Südosten Kongos stammend und dort als Friedensbringer populär, hat Kabila in der ersten Runde die absolute Mehrheit knapp verfehlt, die er aber in der zweiten sicherlich schaffen wird. Sein Herausforderer, Milizenführer Jean-Pierre Bemba, kam auf 20 Prozent der Stimmen.
Ein vergleichsweise mustergültiger Wahlprozess ist noch keine moralische Widerauferstehung eines Landes, das seit zwei Generationen nur eine Richtung kennt: abwärts. Saubere Polizeikräfte, Verwaltungsstrukturen, ein effizientes Justizsystem, politische Kultur: das alles sind illusionäre Schlagworte für eine immer noch tief im magischen Denken verhaftete Gesellschaft, zudem geprägt von einem Jahrhundert Kolonialismus, Inkompetenz und Ausplünderung.
Die westlichen Regierungen setzen auf den programmierten Wahlsieger Kabila, wofür dieser sich bereits mit umfangreichen Bergbaukonzessionen dankbar erwies. Die Privatisierung der ineffizienten Staatswirtschaft ist dringend nötig. Allerdings zahlten die ausländischen Unternehmen oft nur einmal Lizenzgebühren von wenigen Millionen Euro in die leere Staatskassa, Bestechung nicht mitgerechnet. Der empörte Aufschrei von Opposition und NGOs verhallte. Kongo verfügt allein bei Kupfer und Kobalt über Reserven im Wert von Hunderten Milliarden Euro.
Die Ausplünderung geht weiter, nunmehr auf legalistischer Basis. Die Unterlegenen der ersten Wahlrunde, Dutzende von Minister und Rebellenchefs wollen ihre Pfründe in die neuen Zeiten der Demokratie retten. Im Vorfeld des zweiten Wahlgangs übertrumpfen sich die Kontrahenten mit Drohgebärden. Weder Kabilas Präsidentengarde noch Bembas Milizen wurden reduziert oder gar entwaffnet.
Reform der UNO
Das UNO- und das neuerliche Eufor-Engagement könnten erfolgreich sein, wenn es sich als wirksame Alternative zu den Militäraktionen einer Hegemonialmacht erweist, die in einem globalen Bedrohungsszenarium Länder (Somalia, Afghanistan, Irak) umkrempeln und Bösewichte (Aidid, Osama bin Laden) verhaften will, die Rebellenhochburgen stürmt (Fallujah) oder, wie auch Russland, ihre Einflusssphäre mit ökonomischer und militärischer Gewalt wiederherzustellen sucht. Unzählige Thinktanks in Europa und weltweit setzen sich mit den „Neuen Kriegen“ auseinander. Militärische Lösungsansätze überwiegen nach wie vor. Die Hauptursachen für das Anhalten bewaffneter Konflikte werden wohl erwähnt, aber oftmals ignoriert. Trotz ökonomischer Analysen ist die internationale Gemeinschaft erst zögerlich bereit, strukturell gegen die Triebfedern neuer Kriege vorzugehen. Reichtümer werden im industriellen Norden akkumuliert, während sich dort, wo sie entstehen bzw. abgebaut werden, Elend und Unsicherheit ausbreiten. Den Bedeutungsverlust, den Industriestaaten durch den Rückzug aus sozialen Bereichen und der Grundversorgung sowie durch den Machtverlust an multinationale Wirtschaftsunternehmen spüren, versuchen sie durch verstärktes militärisches Engagement in Asien und Afrika wettzumachen. Soziale Sicherheit zu Hause sinkt, strukturelle Gewalt (Stichwort Pariser Vorstädte) nimmt zu, und unter dem Schlagwort „Sicherheit“ wird militärisch Außenpolitik betrieben, während global wirtschaftliche Rivalität, Verschuldung und Flüchtlingsströme anschwellen.
Die globalisierte Welt rückt virtuell zusammen und driftet dabei asymmetrisch auseinander. Territorialsicherheit allein ist angesichts von Terror überholt. Eine Reform der UNO und ihre Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren ist dringend notwendig: nicht nur mit lokalen und internationalen NGO‘s im traditionellen Sinn, sondern etwa auch mit einer Bill & Melinda Gates-Stiftung, die mit einem der Weltgesundheitsorganisation WHO vergleichbaren Budget, aber nur wenigen Hundert Angestellten wichtige Basisprojekte finanziert. Die EU und damit auch Österreich haben Entwicklung, Demokratieförderung und Menschenrechte in einen erweiterten Sicherheitsbegriff und in die Entwicklungs-Zusammenarbeit aufgenommen. Eine kooperative Außenpolitik, eine reformierte UNO, Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren statt korrupten Regimes sind in jedem Fall nicht humanitäres Gewäsch, sondern ein Gebot des 21. Jahrhunderts.