Zwischen Prekariat und Dschihad

 

Mahir Guven: Zwei Brüder

Zwischen Prekariat und Dschihad

Der preisgekrönte Debütroman „Grand Frère“ des französischen Shootingstars

Wiener Zeitung

Mai 2019

Er ist ein Shootingstar der französischen Literaturszene: Mahir Guven, Sohn türkisch-kurdischer Eltern. Er kennt die Banlieue, die wirtschaftlichen und sozialen Zustände der Vorstädte, die viele Migranten der zweiten Generation in die Arme von Predigern und manche nach Syrien trieben. Wie einst Boris Vian über die Jugend seiner Zeit, schreibt Guven in seinem wie ein Epochenroman anmutenden Debüt packend über Identität, Prekariat und Gewalt, in abwechselnden Monologen und knappen Dialogen, aus der Innensicht zweier Brüder.

Deren früh verstorbene Mutter war Bretonin, der Vater ist atheistischer Syrer, der für die Söhne „seinen Arsch ins Taxi schleppt“. Er glaubt an Arbeit und Familie, die Söhne pfeifen auf seine Ideale. Der Ältere, einst Fußballer, Drogenkurier und Polizeispitzel, ist „vernünftig“ geworden. An Martin Scorseses „Taxi Driver“ erinnernd, erlebt er die schöne neue Prekariatsfreiheit als Uber-Fahrer. Er „dribbelt durch seine Ideen“, beobachtet seine Fahrgäste und die bessere Pariser Gesellschaft zynisch bis abgeklärt, ohne je Teil davon zu werden. In seiner emotionalen Suada ist er rüde, kantenreich, lebendig und auch sympathisch.

Der Jüngere ist Krankenpfleger. Er hadert mit seiner Identität, und verschwindet eines Tages mit einer islamistischen NGO nach Syrien. Nach seinem spurlosen Abtauchen stehen der Ältere und der Vater unter behördlicher Beobachtung. Die Figur des jüngeren Sinn-Suchenden leidet ein wenig unter – wohl vom Autor auch gewollten – klischeehaften Floskeln des „guten Jihadisten“. Sein Monolog aus dem Krieg wendet sich an den großen Bruder. Er sucht dessen Verständnis und Vergebung. Was dann passiert, als er wieder in Paris auftaucht, soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Das Thema, der Banlieue-Argot und der atemlos-stringente Rhythmus von Mahir Guvens mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Debüt sind mitreißend. André Hansen hat die Herausforderung, den Slang-Sprachrausch ins Deutsche zu übertragen, mit Anklängen aus Hip-Hop und Rap gemeistert.

Das Original schließt mit einem Glossar, das man in der Übersetzung entbehren muss.

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