René Siegl

Quälend konsequenter Ausstieg

107 Tage Kreta

Wenn ein guter Erstlingsroman in einem regionalen Kleinverlag erscheint, hat er es schwer, wahr genommen zu werden. „107 Tage Kreta“ ist ein Fundstück, das es wert ist, gehoben zu werden.

Der Protagonist Gramlinger (nomen est omen, in mehrfacher Hinsicht) „reagierte in seinem Leben vorrangig auf Menschen, die ihm sagten, welche ihrer Erwartungen er zu erfüllen hatte“. Zu Beginn des Romans will er mit Frau und Kind einen Hotelurlaub in Kreta verbringen. Oder vielmehr – er muss, auf Wunsch seiner Frau. Frei nach Murphys Gesetz geht schief, was schief gehen kann. Und Gramlinger hat seinen Anteil daran. 107 Tage Kreta ist das Tagebuch eines Verfalls.

Der Protagonist ist als Loser gezeichnet, als Waschlappen. Bzw. sieht er sich so, meist heiter-selbst-ironisch. Der Autor schafft es, dass man mit dem Verlierer Gramlinger bangt – und ihn wachrütteln will, ihn zurückhalten, als er an einem heißen Tag spontan das kretische Hotel und die Familie verlässt. Ohne Pass, ohne Geld, ohne Plan versteckt er sich in einer nahe gelegenen Felsküsten-Höhle. Er bleibt über Tage, Wochen, über das Saisonende hinaus, als er sich nicht mehr von den Abfällen aus den Mülltonnen der nahe gelegenen Hotels ernähren kann. Gramlingers Existenz an den Klippen gerät mit dem Winterregen ins Rutschen, und er klammert sich nicht einmal fest.

Spannend und scheinbar leicht geschrieben, entfaltet der Roman einen beklemmenden Sog. Ohne in Klischees zu kippen, ist er voll leichtfüßiger, kluger, manchmal ironischer Betrachtungen über uns Alltagsmenschen, über Freiheit, Pflichtbewusstsein, Zwänge, (mangelnde) Anerkennung und Identität, über das Arbeits- und Liebesleben eines alternden Nerd. „Oberflächlich war seine Chefin meist freundlich, darunter lauerte aber eine ignorante Härte, die am Boden der eigenen Ignoranz und Inkompetenz wurzelte und regelmäßig von ziemlich offen eingeforderten Schleimereien ihrer Mitarbeiter gedüngt wurde“.

Gramlingers Reflexionen sind originell in ihrer vordergründigen Einfachheit, ihrer nur scheinbaren Naivität. Der Protagonist ist konsequent in seiner zuletzt selbstzerstörerischen Verweigerung. „Fast ein österreichischer Houellebecq“, meint ein Rezensent. Gramlinger erinnert öfter an „Bartleby der Schreiber“ von Herman Melville. Auch oder gerade weil es zu keinem Happy End kommt: 107 Tage Kreta ist kein Groschenroman

René  Siegl, 107 Tage Kreta

Verlag Margarete Tischler 2021, 18,00 €

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