Sieben Reisen in den Abgrund
Literarische Alpträume
Joyce Carol Oates und die Krisen unserer Gegenwart
Wiener Zeitung, September 2019
Die Produktivität der Autorin ist fast so unheimlich wie viele ihrer Geschichten. Für Kritiker ist Joyce Carol Oates eine Fließbandschreiberin, für Fans hat die literarisch vielseitige Amerikanerin längst den Nobelpreis verdient. In jedem Fall hat die 81-Jährige mit ihrem rastlosen Talent in mehr als 40 Romanen, hunderten Kurzgeschichten, Theaterstücken und Essays die im Angloamerikanischen ohnehin nicht so hohe Mauer zwischen E- und U- Literatur mit magisch-phantastischen Elementen eingeebnet.
„Sieben Reisen in den Abgrund“ klingt nach all den Krisen unserer Gegenwart: nach Umwelt, Klima, Migration, Politik, Finanzen, Wirtschaft. Doch anders als in ihren Romanen, wo Oates auch gesellschaftliche Themen mit ihrem Faible für Schrecken verknüpft, geht es hier weniger um politische oder soziale als um menschliche Abgründe. „The Corn Maiden“, heißt die Sammlung harmlos nach dem Titel der ersten Story im englischen Original, „Die Maisjungfer“.
Mit gut 130 Seiten fast so lang wie die anderen sechs Geschichten zusammen, ist die „Maisjungfer“ – mit dem trügerischen Untertitel „Eine Liebesgeschichte“ – auch die beste. Marissa, ein elfjähriges Mädchen, wird entführt. Von Anfang an ist klar, wer die Täterinnen sind: eine Mädchenbande aus der gemeinsamen Schule. Sie sperren ihr Opfer im Keller der weitläufigen Villa ein, wo Jude, die Rädelsführerin der Gang, mit ihrer Großmutter wohnt. „Weil es ein Experiment war, um zu sehen ob Gott es zulassen würde. Weil niemand da war um mich aufzuhalten. Darum.“, rechtfertigt sich Jude so lapidar wie giftig. In Abwandlung eines indianischen Rituals hat sie Marissa zur Opferung vorgesehen. Packend ist nicht nur Judes verstörend kaltblütiges Vorgehen, sondern Oates’ stringent multiperspektivische Erzählweise, abwechselnd aus der Sicht Judes, der ihrer „Jüngerinnen“, von Marissas alleinerziehender Mutter oder eines von den Mädchen perfide beschuldigten Lehrers.
Die Protagonisten aller sieben Geschichten sind Antihelden: ein Schönheitschirurg in der Krise, der eine Patientin durch Schädel-Trepanation aus einer „spirituellen Sackgasse“ helfen will; ein Mädchen das – vielleicht – sein kleines Schwesterchen erstickt; ein älterer Mann, an dem seine Stieftochter späte, aber umso erbarmungslosere Rache nimmt; die Begegnung einer Witwe mit einem gestörten Veteranen; oder Zwillingsbrüder, die bei aller Unterschiedlichkeit nicht voneinander loskommen und sich grausam verstricken.
Die Genre-übergreifenden Spannungsgeschichten sind allesamt beunruhigend – und doppelbödig: die Autorin untergräbt vorschnelle Erwartungen. Trotz oft krasser, unzweideutiger Schilderungen verweigert Oates oft ein klares Ende. Manchmal deutet sie sogar einen versöhnlichen Ausgang an, auch wenn das dann ein eher kalter Trost ist. Liebhaber unheilsschwangerer Gruselgeschichten werden mit den sieben Episoden bestens bedient.
Joyce Carol Oates
Sieben Reisen in den Abgrund
Erzählungen. Übersetzt von Silvia Visintini. Droemer, München 2019, 381 Seiten,