An den Quellen von Arax, Euphrat und Tigris wurde der biblische Garten Eden angesiedelt.
Armenien
Bis heute macht Hajastan , wie Armenien in der Landssprache heißt, dem Volk Israel den Rang um das meistgeprüfte Volk Gottes streitig
Wiener Zeitung, Mai 2007
An den Quellen von Arax, Euphrat und Tigris wurde der biblische Garten Eden angesiedelt. Am Ararat soll Noahs Arche gestrandet sein – doch das karge Hochland war nie ein Paradies gewesen. Bis heute macht Hajastan , wie Armenien in der Landssprache heißt, dem Volk Israel den Rang um das meistgeprüfte Volk Gottes streitig.
Die Grenzen des Landes wurden wiederholt verschoben, das Volk vertrieben und an den Rand der Auslöschung gebracht. Ein Geschichtsatlas benötigt 60 Karten, um die zahllosen historischen Wechsel darzustellen, vom äußersten Rand Europas über den zerklüfteten Kaukasus in den vorderen Orient, vorbei an den alten Handelsrouten zwischen Morgen- und Abendland. Armenien hat Erdbeben, babylonische, römische, byzantinische Herrscher, arabische Kalifen, mongolische Khans, persische, osmanische und zuletzt die sowjetische Herrschaft überdauert. Nur der 5130 Meter hohe, eisbedeckte Berg Ararat blieb eine Konstante, Bezugspunkt der Diaspora und kollektives Symbol armenischer Identität.
Er schwebt über dem Smog der Hauptstadt Eriwan und liegt doch außer Reichweite, jenseits des Arax in der Türkei. Eingezwängt zwischen Erzfeinden, umfasst Armenien mit 29.000 km² heute nicht einmal ein Zehntel des historischen Siedlungsgebietes. Allerdings: Groß-Armenien war nie die ethnisch homogene Heimat eines Volkes.
Frühes Christentum
Kaum ein Land betrachtet seine Geschichte nüchtern-distanziert. So manches Volksbewusstsein stützt sich auf kurzlebige, gar mythologische Größe zu einem fernen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Das Reich Tigran des Großen reichte um 70 v. Chr. vom Kaspischen bis ans Mittelmeer. Die kulturelle Identität der Armenier gründet auf ihrer indoeuropäischen Sprache, dem eigenen, kaligraphisch anmutenden Alphabet und der Kirche. Schon 301 hat Armenien als erstes Volk das Christentum zur Staatsreligion erhoben. Mittelalterliche Klöster, Bibliotheken, Skriptorien aus rosa Tuffstein oder grauem Basalt waren auch in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft spirituelle Zentren.
Die Armenier sind besessen von Geschichte, von einstiger Größe und biblischen Heimsuchungen. Angelpunkt der geschichtlichen Obsession ist der Genozid von 1915. Selbst in einem Gebirgsdorf wird man als Österreicher auf Franz Werfel angesprochen. Er gilt den Armeniern als Volksheld. Werfel wurde bei einer Nahostreise 1933 mit dem Anblick armenischer Kinder in Teppichfabriken konfrontiert. „Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder gab mir den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.“
Werfel als Volksheld
Werfel setzte mit seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ dem Genozid als blutige Ouvertüre des 20. Jahrhunderts ein literarisches Denkmal – wenige Jahre bevor die nationalsozialistische „Endlösung der Judenfrage“ ins Werk gesetzt wurde. Werfels Ahnung hinter der spannenden Romanhandlung ist von aktueller Brisanz: Ein ideologisch gewappneter, aber gottloser Staat betritt die Bühne der Geschichte und wird zum Mörder apokalyptischer Ausmaße. Literatur oder Filme mögen eine Tragödie dem Vergessen entreißen. Ob Kunst je den Lauf der Geschichte beeinflusst, darf bezweifelt werden. Der kommende Krieg bedeute „die gnadenlose Ausrottung des Gegners – Mann, Weib und Kind“ , erklärte der deutsche Führer vor seiner Generalität auf dem Obersalzberg am 22. August 1939 programmatisch. Und: „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Werfels Buch war bereits zwei Monate nach Erscheinen 1934 in Deutschland verboten worden.
In jüngerer Vergangenheit hat sich der kanadische Filmregisseur Atom Egoyan auf die Spurensuche seines armenischen Erbes gemacht – und nach der Frage, wie man sich heute eines Massenmordes erinnern könne. Sein vielschichtiges Filmdrama „Ararat“ ist keine blutrünstige Anklage des Genozids, vielmehr ein Versuch, jede selektive Sicht aufzubrechen. Egoyan reflektiert künstlerisch, in sinnlicher Bildersprache auf mehreren Erzählebenen die Schwierigkeiten des Erinnerns, schließt differenziert auch die türkische Perspektive ein. Egoyan interessiert weniger „die Wahrheit“, vielmehr verwobene Geschichten, Handlungsfäden, das Geflecht subjektiver Ansichten und Irrtümer. Ein Puzzle, als das sich bei genauer Betrachtung jede Geschichte erweist. Es zeigt, wie schwierig die historische Wahrheitssuche ist, wie die platte Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse und die Festschreibung von Geschichte in Gesetzen scheitern muss. Doch die Vergangenheit holt uns immer ein, selbst wenn wir sie leugnen.
Tabu Völkermord
Geschätzte 300.000 Armenier starben bei Massakern in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, 800.000 bis 1,5 Millionen ab April 1915. Die Hälfte wurde an ihren Wohnorten ermordet, der andere Teil auf Deportationszügen zu Tode geschunden. Der Völkermord, die zielbewusste Zerstörung einer ethnischen oder religiösen Gruppe, ist ein Tabu, auf das die Türkei auch 90 Jahre später noch allergisch reagiert. „Tragische Ereignisse im Zuge des Ersten Weltkriegs“ ist das Maximum des offiziellen Eingeständnisses. Mit welchem Aufwand die Türkei ihre angesichts aller Dokumente absurde Position vertritt, ist schwer nachzuvollziehen.
Die Türken glauben sich einer weltweiten Verleumdung ausgesetzt. Der langsame Zerfall des Osmanischen Reichs im 19. Jahrhundert wurde als beständiger, vom Westen und Russland geförderter Separatismus erlebt, der erst durch moderne, europäische Methoden aufgehalten werden konnte, und zwar durch einen von den Jungtürken angestrebten, unter Atatürk verwirklichten homogenen Nationalstaat. Deshalb wurden Armenier, Griechen und später Kurden als Werkzeuge des Westens angesehen, um selbst den Kern der türkischen Nation – Anatolien – zu zerstückeln. Türken sehen sich als Opfer in historischer Kontinuität. Zwischen Opferstatus und Größenwahn fehlt allen davon „Betroffenen“ der Weltgeschichte das Verständnis, selbst auch Täter zu sein. Trotz vorsichtiger Ansätze zu moralischer Verantwortungsbereitschaft, wie etwa jüngst durch den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, ist der Türkei ein kritischer Zugang zur Historie kaum möglich.
Zwei Millionen Armenier lebten vor hundert Jahren im Osmanischen Reich. In Türkisch-Armenien gibt es heute überhaupt keine mehr. 70.000 harren in Istanbul aus, sitzen nach dem Mord am Publizisten Hrant Dink im Jänner 2007 auf gepackten Koffern. Ankara erweist durch Geschichtsblindheit und ebenso blinden Nationalfanatismus seinen EU-Ambitionen sicherlich keinen guten Dienst.
Mitte Mai blüht am Genozid-Memorial auf einem Hügel über Eriwan der Flieder, währen rundum auf den Bergen Schnee liegt. Das Klima ist rauh, mit langen, kalten Wintern und heißen, staubigen Sommern. Armenien ist ein Gebirgsland, nur zu einem Drittel bewohnt. 90 Prozent des Binnenlandes liegen auf über 1000 Meter Höhe. In wenigen Tälern drängt sich die Hälfte der drei Millionen Einwohner. Gut doppelt so viele leben im Ausland, in Russland und Georgien, in den USA, Frankreich, im Iran und im Libanon. Russlands Präsident Putin meinte bei einem Staatsbesuch in Eriwan scherzhaft, er sei Präsident von mehr Armeniern als sein Amtskollege Kocharyan.
Russland als bisher letzter Fremdherrscher war es auch, das Armenien im Ersten Weltkrieg vor dem endgültigen Untergang bewahrte. Heute ist Russland Rohstofflieferant, Kreditgeber und militärischer Bundesgenosse – und ist auch das Ziel einer Million Arbeitsmigranten seit 1991, die in Moskau summarisch als„Schwarze aus dem Kaukasus“ Anfeindungen ausgesetzt sind. Für Russen war Armenien stets „unser Süden“. Es galt einst als lustigste Baracke der Sowjetunion, lieferte die feinsten Cognacs, die besten Schuhe, produzierte Hochtechnologie. Die in Russland erfundenen und Armeniern zugeschriebenen „Radio Eriwan“-Witze waren in der ganzen Sowjetunion ein Zeichen dafür, wie sich ein Volk nicht unterkriegen ließ und sogar in finstersten Zeiten noch lachte.
1988 war der Wendepunkt der jüngsten Geschichte Armeniens, das seinem christlichen, launischen Gott durch alle Prüfungen treu geblieben ist. Ein verheerendes Erdbeben legte den industriellen Norden in Schutt und Asche. Es war wie ein Fanal, das an der geopolitischen Bruchlinie am Südrand der Sowjetunion eine neue Phase blutiger Auseinandersetzungen einläutete. Nationalismus und Religion erwiesen sich als neue alte Sprengkräfte, die in allen Kaukasusländern bis heute ungelöste Territorialkonflikte auslösten.
Zankapfel Berg-Karabach
Anfang der 90er Jahre forderte der Krieg um die mehrheitlich armenisch bewohnte, aber unter Stalin nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ Aserbaidschan zugeschlagene Region Berg-Karabach 25.000 Tote. Armenien gelang – mit russischer Unterstützung – die Eroberung der Enklave und von rund 20 Prozent von Aserbaidschan. Ein Pyrrhussieg. Der seit 1994 „eingefrorene“ Konflikt führte zur Blockade durch die Türkei.
Bereits nach dem Erdbeben 1988 wurde Armeniens einziges Atomkraftwerk, Lieferant von 40 Prozent seines Energiebedarfs, aus Sicherheitsgründen abgeschaltet. Im Land ging der Strom aus. Mit der Auflösung der Sowjetunion brachen Absatzmärkte weg und der einst florierende Tourismus zusammen. Die Wirtschaft verfiel rasant, nur Korruption und Verbrechen blühten auf. Ein Viertel der Bevölkerung verließ das Land, darunter 15.000 von 20.000 Wissenschaftern.
Die jüngsten Parlamentswahlen vom 12. Mai waren nach Einschätzung internationaler Beobachter die bisher saubersten in der Geschichte des Landes. Wahlen allein sichern aber noch keine Demokratie, wenn sie durch mangelnde Gewaltenteilung und Bestechung unterminiert wird. Diese wird nämlich oft nicht als solche gesehen. Es ist Schutzgeld in einer Jahrhunderte langen Kette von Khans, Sultanen, Schahs, Zaren und Kommissaren. Eine Obrigkeit, der man im besten Fall ein Schnippchen schlägt. Es sind kaum je Vertreter des Volkes, vielmehr despotische Fremdherrschaften, deren Gewogenheit man sich erkaufte. Man lebte in einer Schicksalsergebenheit, die wenig Raum für das Konzept individueller Selbstbestätigung in einem freiwilligen Gemeinwesen bot.
Durch die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft glaubten Diaspora-Armenier in Frankreich oder den USA, nur die Sowjetmacht unterdrücke Armenien. Nach dem Ende der UdSSR erblühe über Nacht ein neuer Garten Eden. Hinter jeder Idealvorstellung lauert Enttäuschung. Diaspora-Armenier, für die aus der Ferne der kümmerliche Rest von Heimat – ähnlich wie Israel für die Juden im Ausland – als gelobtes Land erschien, waren beim ersten Besuch ernüchtert. Desolate Schulen und Straßen, zerfallende Fabriken, kein Strom und darniederliegende Eigeninitiative. Das heruntergekommene Land hatte wenig mit der Sehnsuchtsprojektion zu tun. Dennoch: die erfolgreiche Diaspora rettete das Land vor dem Zusammenbruch. Armenien hat unter allen GUS-Ländern den höchsten Pro-Kopf-Anteil an Auslandshilfe erhalten.
Schon nach dem Erdbeben 1988 reagierten die Auslandsarmenier schnell. Auf die Hilfsgelder folgten Investitionen, Überlebenshilfe für Unternehmen von Software bis zu Hightech-Medizin. Seit 2002 hat etwa der armenisch-amerikanische Milliardär Kirk Kerkorian 170 Millionen Dollar gespendet, was einem Drittel des Staathaushaltes entspricht. Der Anteil an Krediten für Kleinunternehmer schuf 20.000 Arbeitsplätze. Der Traum des ressourcenarmen Landes, eine Art Silicon Valley des Kaukasus zu werden, steckt immer noch in Ansätzen. Ausgaben für Flüchtlingsfürsorge und Verteidigung schlucken allerdings einen Löwenanteil am knappen Budget.
Für einen nachhaltigen Erfolg ist eine Lösung des Konfliktes um Berg-Karabach aber unabdingbar. Im Wahlkampf blieb das Thema ausgespart. Jede Kompromissbereitschaft wäre ein Tabubruch. In der kollektiven Wahrnehmung Armeniens als Opfer ist Aserbaidschan nicht das kleine Nachbarland, mit dem man sich um steinige Hügel zankt, sondern Teil eines türkischsprachigen Großraumes, der Armenien nach der Vernichtung trachtet. Beständiger Friede ist nicht in Sicht.
Ruhender Vulkan
Südlich des Kaukasus, zwischen Russland und Iran, verläuft ein schmaler, strategischer Korridor. Pipelineprojekte, die Öl und Gas vom Kaspischen Meer und aus Zentralasien in den Westen bringen sollen, laufen über Georgien und umgehen Armenien. Es ist daher auf Hilfe von Russland und auf leidlich gute Beziehungen mit dem Nachbar Iran angewiesen. Was wiederum den USA ein Dorn im Auge ist. Die traditionell starke Armenier-Lobby im US-Kongress gerät gegenüber Ölinteressen ins Hintertreffen.
Hajastans seltene Besucher erleben die herbe Schönheit eines kargen Landes mit alten Klöstern seiner Schutzheiligen – und die großzügige Gastfreundschaft seiner Menschen. Noch immer klingt Armenien wie das Synonym für Dramen – von Erdbeben über Wirtschaftsruin bis Völkermord und Massenexodus. Für Armenier war der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht das oft zitierte Ende der Geschichte. Sie sehen auch den Ararat nicht als erloschenen, sondern als bloß ruhenden Vulkan.