Unglückliche brauchen Geschichten

Entmystifizierung, Kibbuzniks und eine Totenklage von Yoram Kaniuk, Amos Oz und David Grossman: Drei große Stimmen Israels und die Literatur des Landes rund um seinen 65. Geburtstag

Unglückliche brauchen Geschichten

Der Standard, Dezember 2013

Das komischste, was mir im Krieg passiert ist  sollte Yoram Kaniuks allerletztes Buch heißen. Schließlich nannte er es ganz prosaisch 1948. Diese Jahreszahl ist in das Gedächtnis des Nahen Ostens eingebrannt. 17 Jahre alt war der „Sabra“, der schon im Land geborene Kaniuk, als er sich im israelischen Unabhängigkeitskrieg idealistisch in die paramilitärische Palmach meldete. Sie würden „das Land erbauen und von ihm erbaut werden“, hatten ihnen Lehrer eingetrichtert. Doch erbauen, erbaut werden, wie ging das? Satt Heldengeschichten beschreibt Kaniuk einen Kreuzzug schlecht bewaffneter Kinder. „Sie schickten uns aus, einen Staat für ihre ermordeten Verwandten zu errichten, ohne zu ahnen, dass dieser Staat eine Art Irrenhaus in der Wüste werden würde.“

Schon 1949 hatte Kaniuk ein Buch über den Krieg geschrieben. Alle Verlage lehnten ab: Es sei nicht gut. „Vielleicht stimmt das ja“, sagte er rückblickend. Er wollte „all dem entfliehen“, ging in die USA, wurde Maler. Dann kehrte er zurück und schrieb, unter anderem 17 Romane wie den verfilmten Adam Hundesohn oder Der letzte Jude, über die Shoah, über das deutsch-jüdische Beziehungsgeflecht, über Israelis und Palästinenser. Ist 1948 Roman oder Autobiografie? Jedenfalls bürstet Kaniuk Israels Gründungsmythos, den vermeintlich sauberen Unabhängigkeitskrieg, ordentlich gegen den Strich. In der Übersetzung der Celan-Preisträgerin Ruth Achlama öffnet er unseren Blick auf den Konflikt und seine Menschen, befreit Dämonen der Vergangenheit und schont dabei weder sich noch die Leser, wo seine Erinnerung erbarmungslos ist und an anderer Stelle löchrig scheint.

Was war seine Rolle in einer Racheaktion der wütenden Truppe an Zivilisten? Hat er selbst ein Kind erschossen, nachdem ein Kamerad bereits dessen Mutter mit dem Messer und den Worten „Arabische Frauen sind Brutstätten für Mörder“ abgeschlachtet hat? Vielleicht. Es bleibt für den Leser und vielleicht auch den Autor selbst unklar. „Die Vergangenheit wird so gefärbt, wie sie in Erinnerung bleiben soll“, dekonstruiert er Heldenlegenden. „Die Palmach war kein netter Haufen. Sie war ein geniales und brutales … Werkzeug.“

„Gut 60 Jahre ist der Staat heute alt“, resümiert Kaniuk, „seine Eltern leben nicht mehr, und seine Erben sind Dummköpfe, Räuber, Bösewichte, die vergessen haben, woher sie gekommen sind“, heißt es in 1948. Dennoch: Kaniuk liefert kein Argumentationsfutter für Einstellungen jener, die schon immer wussten, wer am Nahostkonfliktschuld sei, und die Lösungen im Vorhinein kennen.

Es braucht wohl überall Zeit, bis man sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen kann. Eine der großen Stimmen Israels, die sich politisch nicht den Mund verbieten lässt, ist Amos Oz. Sein heuer auf Deutsch erschienener Episodenroman Unter Freunden ist ebenfalls eine Rückbesinnung auf die Anfangszeit Israels, auf eine der Säulen nationaler Identität, den Kibbuz, mit seiner Idee des neuen Juden: kräftig und selbstbewusst, charakterfest und selbstlos, im Kollektiv und weniger in der Religion verankert. Ein nobler Traum für die einen, eine dogmatische Utopie für andere. Oz‘ Buchtitel im Original, Bein Havarimunter Freunden oder unter Genossen ist doppeldeutig – unser „Haberer“ stammt vom hebräischen Wort.

Die Entfächerung des Scheiterns einer Vision verläuft bei Oz nicht spektakulär. Die Erschaffung des neuen Menschen im Kibbuz verlief ohne physische Gewalt. Oz zeigt es im Kleinen. Seine Sätze sind klar wie die Gesten der Kibbuzniks, die den Boden fruchtbar machen, während Oz das mit der hebräischen Sprache tut, von Mirjam Pressler einfach und poetisch ins Deutsche übertragen. Es ist ein kammerspielartiger Roman in acht eigenständigen Novellen, verbunden durch wechselnde Protagonisten, die, in einer Geschichte noch Hauptfigur, in der nächsten einer anderen mit deren jeweiligen Begehren und Widersprüchen Platz machen.

Nach dem Selbstmord seiner Mutter ist das „Wörterkind“ Amos selbst mit 15 in einen Kibbuz gegangen und 30 Jahre geblieben. Sein fiktives Jikhat der 50er-Jahre ist kein Mikrokosmos Israels, sondern der Menschheit. Die Schicksale gehen weit über die enge Gemeinschaft hinaus, wo jeder von allen alles weiß. Sie vermitteln etwas Elementares unserer Bedingtheit, wenn Dogma und Wirklichkeit aufeinanderprallen: das fragile Bedürfnis nach Privatheit gegenüber hehren Idealen; Träume, Liebe, Eifersucht, Einsamkeit inmitten ausgezehrter Utopien.

Vom erinnern, klagen und vergessen

„Ich schreibe über unglückliche Menschen. Glückliche sprechen für sich selbst. Sie brauchen keine Geschichten“, sagt Oz, der nicht nur wegen seines Opus magnum Eine Geschichte von Liebe und Finsternis seit Jahren Nobelpreiskandidat ist. In Unter Freunden zeigt er sich schon altersweise, voll Mitgefühl und Zuneigung, mit einer gelegentlichen Prise Tragikomik. Er richtet nicht. Jede gute Literatur sei provinziell, sagt Oz: In jedem Tropfen Wasser findet sich der ganze Ozean wieder.

Von David Grossman kommt die literarisch anspruchsvollste Neuerscheinung. Als Kommentator und humaner Analytiker der Sprache des Nahostkonfliktes engagiert sich auch Grossman seit Jahren für eine friedliche Lösung. Als Schriftsteller hat er lange die politischen „Unheilszonen“ gemieden. Er erfand die Liebessprache eines Paares, schrieb Kinderliteratur oder über Probleme Heranwachsender. Dass die Politik nicht nur vehement ins Schreiben, sondern auch in ein Leben einbrechen kann, erfuhr er 2006. In Eine Frau flieht vor einer Nachricht hatte er den befürchteten Tod seines Sohnes im Libanon-Krieg wie vorausgeahnt.

In Aus der Zeit fallen verarbeitet er nun paradigmatisch den Verlust. Wenn schon auf eine „Insel der Trauer“ verbannt, wollte er eine „Landkarte der Inselgeografie“ schreiben. In einer vielstimmigen Mischform aus Sprechgesang, Lyrik und Prosa wurde es ein Gebet und Klagelied, ein Versepos in der Tradition klassischer Tragödien. „Ein Mann“ und „eine Frau“ reden miteinander, aneinander vorbei. Er muss „zu ihm“, „nach dort“; er geht aus dem Haus, im Kreis, um sich, um die Stadt. Andere Untröstliche, die Kinder verloren haben, schließen sich ihm an, ein Lehrer, ein Schuster, eine Hebamme, ein Zentaur, ein Chronist. Der Chor der Gehenden kreist um einen Abgrund, der sie machtvoll anzieht.

In zärtlicher Traurigkeit ist es Grossmans bislang persönlichster Text, ohne autobiografische Bekenntnisliteratur zu sein. „Die Form hat mich gewählt, sagt er. „Ich wollte Prosa schreiben. In Prosa kann man distanziert schreiben. Poesie ist intimer, präziser.“ Oder, wie es Grossmans Frau Michal ausdrückt: „Poesie ist das dem Schweigen nächste.“

 Konflikte und Debatten

Israels Literatur wird in siebzig Sprachen übersetzt. Auf Deutsch werden mehr Bücher publiziert als in jeder anderen Sprache. Die Mehrheit der übersetzten Autoren waren säkular und in einer europäischen Tradition verwurzelt. Weder Kaniuk noch Oz oder Grossman sind alttestamentarische Hiobs, doch alle sind – im Fall Kaniuks: waren – visionäre Kritiker der Politik und engagieren sich für die Zusammenarbeit von Israelis und Palästinensern.

In Interviews werden sie oft nur kurz zu ihrem Werk und den Rest zur politischen Situation befragt. Geduldig, klug und engagiert geben sie Auskunft. Unsere Wahrnehmung Israels, geprägt von schlechtem Gewissen oder Besserwisserei, ist auf die politische Dimension fokussiert, auf die Shoah und die ewig gleichen Debatten um das Land Palästina.

Seit je prallen hier Kulturen und Religionen und heute Tradition und Postmoderne in einer heterogenen Gesellschaft aufeinander. Längst prägen auch interne Konflikte Israels Debatten, das Verhältnis laizistisch gegenüber religiös, europäische versus orientalische Wurzeln bis hin zu Rassismuskontroversen um äthiopische oder russische Zuwanderer.

„Israel hat vielleicht die faszinierendste Literaturszene der Welt“, meinte Amos Oz. „Symbolisten und Realisten, Surrealisten, Dadaisten, eine ungeheure Vielfalt an Stilen, Tendenzen, Literaturkonzepten, Schreibeigenarten.“ Es gibt streitbare Lyriker wie Natan Zach ( Verlorener Kontinent, Suhrkamp 2013), Junge Wilde, solche aus einer orientalischen Lebenswelt bis zu arabisch-israelischen Stimmen wie Sayed Kashua (Zweite Person Singular, 2013 als Taschenbuch bei Bloomsbury) oder den verstorbenen Emil Habibi, nach dem Haifa heuer einen Platz benannte, und viele Frauen: Zeruya Shalev (zuletzt 2012 Für den Rest des Lebens im Berlin-Verlag) steht noch für das säkulare Israel, doch „die Orthodoxen sind auf dem Vormarsch“, sagt sie, „sie verändern die Atmosphäre auf eine ungute Weise, hin zur Verhärtung und Verstocktheit“.

Die Erfolgsautorin Mira Magén (Wodka und Brot, 2012 bei dtv) dagegen stammt aus einem ultraorthodoxen Milieu, wo es kaum Raum für weibliche Selbstverwirklichung gab. Sie bringt jenen Menschen diese Welt näher, die kaum Zugang dazu haben, und gibt umgekehrt Religiösen mit subtilen Tönen eine Stimme. Sie selbst sieht sich weniger als Querdenkerin denn als Mittlerin, Pendlerin zwischen traditionellem und modernem Israel.

http://derstandard.at/1385170970509/Unglueckliche-brauchen-Geschichten

Yoram Kaniuk: 1948. Deutsch von Ruth Achlama, 248 Seiten, Aufbau Verlag 2013

Amos Oz: Unter Freunden.  Deutsch von Mirjam Pressler,  216 Seiten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013

David Grossman: Aus der Zeit fallen. Deutsch von Anne Birkenbauer.
Carl Hanser Verlag, München 2012

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Natan Zach: Verlorener Kontinent. Gedichte. Deutsch von Ehud Alexander Avner, Suhrkamp / Insel 2013

Sayed Kashua: Zweite Person Singular, Deutsch von Mirjam Pressler, Berlin Verlag 2013

Zeruya Shalev: Für den Rest des Lebens. Roman. Deutsch von Mirjam Pressler, Berlin Verlag 2013

Mira Magén: Wodka und Brot. Roman. Deutsch von Mirjam Pressler, 400 Seiten, dtv, München 2012

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