Magische Wortschöpfungen
Milena Michiko Flašar: [Ich bin] & Okaasan. Meine unbekannte Mutter
Wiener Zeitung, Juli 2010
2008 debütierte Milena Michiko Flašar mit „[Ich bin]“, einer viel beachteten Sammlung lyrischer Prosa. Drei lose verknüpfte Geschichten erzählten in verdichteter Gefühlsintensität und poetischer Abstraktion von Liebe und ihrem Ende, von der Flüchtigkeit von Beziehungen, von Erwartungen, Abhängigkeit, Zorn, Abschied und Loslassen.
Flašar packte einschneidende Themen junger Menschen in schwerelos anmutende Figuren, die nur selten eine Spur abgehoben von allen profanen Alltagsproblemen ihrer Lebensstationen in Wien, Berlin, Belgrad und New York agierten. Die Handlung der zersplitterten Sequenzen trat hinter dem fesselnden Zauber von Flaars Sprachgewebe zurück.
Okaasan , das japanische Wort für Mutter, ist der Titel des nunmehr zweiten Buches der 1980 in St. Pölten geborenen und in Wien lebenden Autorin. Sie beschreibt – im ersten Teil – einfühlsam das Versiegen von Erinnerungen, den langsamen Abschied einer schweigsamen Mutter, ihr Verschwinden hinter einem Schleier dementer Umnachtung. Es geht hier nicht um die späte Aufarbeitung einer konfliktreichen Mutter-Tochter-Beziehung, vielmehr sucht die Ich-Erzählerin nach Bruchstücken der einsamen Kindheit ihrer Mutter, nach den Sehnsüchten, Hoffnungen des damals jungen Mädchens in Japan, vor ihrer Übersiedlung in die europäische Ferne. Leichte Satzgefüge erzählen mehr suggestiv als narrativ von Fremdheit, ohne in Exotismus zu verfallen.
Worte sind für die Autorin „schon da, kommen wie Musik aus der Stille, müssen nur eingefangen, aufgeklaubt werden“. Flaar kreiert zauberische Wortbilder, die schweben, ohne mit dem Boden der Realität zu verwachsen. Die Sprache bleibt rücksichtsvoll, ohne scharfe Kanten, verletzt, nach Aussage der Autorin durchaus bewusst, niemanden.
Die Ich-Erzählerin – durch eine Abtreibung in jüngeren Jahren selbst eine verhinderte Mutter – sucht eine letzte Annäherung an die Jugend ihrer Mutter, und findet gleichzeitig den Abschied in tastenden Schritten, so poetisch wie glaubwürdig. Die Mutter von Milena Michiko Flašar stammt – wie der Name nahelegt – aus Japan, doch ihre haarfein skizzierte Demenz ist Fiktion.
Der zweite Teil des Buches beginnt übergangslos, als ob die zwei Texte eine noch nicht zusammengeheilte Bruchstelle symbolisieren wollten. Nach dem Tod der Mutter begibt sich die Ich-Erzählerin auf Identitätssuche, nicht nach Ost-, sondern – einem Hinweis, einer Eingebung folgend – nach Südasien. Diese Reise in eine äußere Fremde, um Kind-Geborgenheit, Mutter-Sein, nicht Erlebtes und Unentdecktes in sich zu begreifen, atmet vernehmlich den Geist von Guru-Eskapismus und Ashram-Esoterik.
Die spirituelle Suche nach Amma , der personifizierten, allumfassenden Ur- und Übermutter im südindischen Kerala, wirkt zwiespältig. Statt wie in „[Ich bin]“ die stimmige Perspektive eine jüngeren Frau zu wählen, hat die Autorin in „Okaasan“ eine End-Vierzigerin als Ich-Erzählerin gewählt, womit dem im ersten Teil so eindringlichen Text im zweiten kein guter Dienst erwiesen wird.
Insgesamt schmälert das die Qualität von Flašars Sprache aber nur wenig. Die Wortkreationen, punktuell schwebenden Meditationen und rauschhaften Metaphern umschiffen meist melodisch, ja traumwandlerisch abgedroschene Phrasen, auch wenn sie im zweiten Teil, ohne ironischen Bruch, gelegentlich nur haarscharf am Kitsch vorbei schrammen. Am beeindruckendsten ist die Autorin auch hier in knappen, nur wenig lyrisch verfremdeten Wahrnehmungen, etwa bei der Erinnerung der Protagonistin an ihre abgebrochene Schwangerschaft.
Flašars in „[Ich bin]“ angedeutete und in „Okaasan“ bestätigte Gabe für magische Wortschöpfungen und virtuosen Sprachfluss lässt hoffen, dass das Talent der dreißigjährigen Autorin noch zu weiterem kompositorischen Raffinement findet.
Milena Michiko Flasar,
Okaasan – Meine unbekannte Mutter.
Residenz Verlag 2010. 144 Seiten. EUR 17,90
Milena Michiko Flasar, [Ich bin].
Residenz Verlag 2008. 144 Seiten. EUR 16,90