Alain Claude Sulzer: Zur falschen Zeit

Emotionale Gefangenschaft

Alain Claude Sulzer: Zur falschen Zeit

Der Standard, November 2010

Eros und Thanatos: Liebe, gescheitert an Feigheit, Verrat, am Unverständnis von Familie und Gesellschaft: Seit Anbeginn von Dichtung und Literatur ergründen wir so auch eigene Begierden, Abgründe und Ängste. Alain Claude Sulzer erzählt in Zur falschen Zeit eine – fast – klassische Geschichte, allerdings ohne Pathos, vielmehr souverän und unaufdringlich.
Eine Armbanduhr zeigt Viertel nach sieben. Ein unwichtiges Detail auf einem alten Foto, das jahrelang auf einem Regal steht, bis der halbwüchsige Ich-Erzähler die Uhr näher betrachtet, das Bild seines kurz nach seiner Geburt aus dem Leben geschiedenen Vaters aus der Umrahmung löst und auf der Rückseite einen Firmenstempel entdeckt: André Gros, Atelier de Photographie, Paris.

Viertel acht, egal ob Früh oder Abend: eine unübliche Zeit für eine professionelle Atelieraufnahme. André ist sein Patenonkel. Die Mutter hat über ihn, wie auch über den Vater, stets nur ausweichend gesprochen. Dessen Hinterlassenschaften seien bei Umzügen verlorengegangen. Was blieb, ist ein Familiengeheimnis, das dem Sohn plötzlich bewusst wird. Aber „gegen wen kämpfen, wo nicht einmal Windmühlen zu sehen waren?“ Es sind Herbstferien. Die Armbanduhr und die scheinbar falsche Zeit werden zum Ausgangs- und Angelpunkt einer Spurensuche nach Paris.

In atmosphärischer Dichte führt Sulzer Fragmente des Erwachsenwerdens von Vater und Sohn zueinander: erst aus der Ich-Perspektive des Siebzehnjährigen, der beim Patenonkel die Armbanduhr findet, aber auch der Neigungen des Boheme-Fotografen gewahr wird, um dann – etwas abrupt – in die Perspektive des jungen, künstlerisch ambitionierten Vaters in den frühen Fünfzigerjahren zu wechseln.

In einfachen Worten und wenigen, eindrücklichen Bildern ohne überladene Symbolik führt der Autor zurück in eine Schweiz beklemmender Wohlanständigkeit, wo „dafür“, für Emils aufkeimende Regungen nicht einmal gedanklich Platz ist. Emil begibt sich, halb freiwillig, in psychiatrische Behandlung, um „davon“ geheilt zu werden. Die schockierten Eltern schweben in der Hoffnung, dass mit klinischer Umerziehung, aber auch durch Verschweigen das Unaussprechliche verschwindet: die Homosexualität, die zwar schon seit 1942 in der Schweiz nicht mehr strafbar, aber weiter geächtet ist. Ein braves Nachbarland, das seine Jugend von mörderischen Ideologien verschonte; wo nur mancher Normabweichler in Ausweglosigkeit erstickte.

„Er war kein Feigling“, so André in Paris zu Emils Sohn, „er blickte weder nach links noch nach rechts. Er war unversehens genau dort hineingeschlittert, wo sie ihn haben wollten. In eine bürgerliche Existenz“ als Lehrer, in der er sein eigener Aufpasser geworden war. Bis Emil die Leidenschaft zu Sebastian, einen noch jüngeren Kollegen, packt. Er versucht ein qualvolles Doppelleben, mit Frau und einem Neugeborenen, und erleidet am Milieu Schiffbruch, an der Erpressung durch Sebastians Mutter.

Aber er zerbricht nicht zuletzt auch an Entschlusslosigkeit, an der „eigenen Unzulänglichkeit“, wie er resignierend weiß. Das unerbittlich schwere Pendel der Selbstzweifel kommt im Doppelselbstmord mit dem Geliebten zum Stillstand. Nur die Armbanduhr, Symbol der lange eingefrorenen falschen Zeit, kommt als Schweizer Präzisionswerk nach 17 Jahren Bewegungslosigkeit bei Emils Sohn wieder in Gang.

Bei aller Nähe zu den Handelnden, vielmehr den Personen, mit denen etwas geschieht, sind diese weder durchpsychologisiert, noch werden sie in provinzieller Unbedarftheit entlarvt. Der Leser muss manche Charakterbilder selbst vervollständigen.

In der Beschreibung von dem, was ist und nicht sein darf, ist Sulzer ein Meister leiser Töne. Seine Erzählweise wirkt stellenweise altmodisch, doch sie fängt die Atmosphäre umso beklemmender ein. Sulzer führt einmal mehr ins Innenleben unseres Nachbarlandes, denunziert aber nicht spekulativ spießigen Mief, dramatisiert keine in Gewalt kippende Leidenschaft, nicht einmal einen Skandal an der Kleinstadtschule mit ihrem Anstand, der uns heute kaum mehr zugänglich erscheint: eine Sexualmoral und Unfreiheit, die an exotische Ränder unserer medialen Wahrnehmung gerückt sind. Sulzers subtile Beobachtungen kleinster Handlungen im Sog der Unausweichlichkeit zeigen ein Feingefühl, das den Autor auch als Juror beim jährlichen Klagenfurter Wettlesen auszeichnet.

Für den Roman Ein perfekter Kellner erhielt er 2008 den Schillerpreis und den französischen Prix Médicis étranger. Er entwickle „ein bewegtes Seelendrama, das bis in die feinsten Verästelungen behutsam ausgeleuchtet wird“, hieß es in der Begründung des Hermann-Hesse-Preises 2009 für Privatstunden. Auch Sulzers nunmehr neuntes Buch hat nie die suggestive Vordergründigkeit eines Lehrstücks über die Unerbittlichkeit einer engstirnigen Gesellschaft. Vielmehr unaufdringlich schleichen sich im Leser Fragen ein, wie er oder sie sich – „zur falschen Zeit“ – wohl selbst verhalten hätte.

Alain Claude Sulzer

Zur falschen Zeit

Galiani Verlag Berlin 2010

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